Kirche im freien Fall. Cristina Fabry

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Kirche im freien Fall - Cristina Fabry

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Außerdem hatte die Leiterin des zweiten Anfänger-Kurses überraschend einen interessanten Job in einer anderen Stadt bekommen und hatte die Brocken hingeschmissen.

      Nun war es ziemlich voll im Seminarraum und Kerstin traute ihren Augen nicht, als sie ein bekanntes Gesicht unter den Neuzugängen ausmachte: die unerträgliche, blasierte, dumm-fromme Carla aus ihrer Heimatgemeinde. Ja, Kerstin hatte gehört, dass sie in Bielefeld Biologie studierte, aber sie musste doch längst fertig sein, schließlich war sie zwei Jahre älter als Kerstin und Kerstin hatte ihr Studium auch schon vor fast zwei Jahren abgeschlossen. Obwohl sie vor Neugier nahezu platzte, was genau Carla

      an der Uni zu suchen hatte, bemühte sie sich, sie zu ignorieren und vorzugeben, sie nicht wiederzuerkennen, so sehr ekelte sie sich vor der ehemaligen Rivalin, die sie noch immer in ihrer senfgelben Strickjacke vor sich sah, mit dem überheblichen Gesichtsausdruck und dem einschläfernden Redefluss.

      Doch am Ende der Veranstaltung, als Carla bemerkt hatte, dass Kerstin einen besonderen Draht zu dem reizvollen Lehrer hatte, beschloss sie, sich zu einem ersten Schritt herabzulassen. Sie ging auf die ungeliebte, alte Bekannte zu und sagte in einem Ton, der auf wundersame Weise ein freundliches Einschmeicheln mit einem herabwürdigenden Befremden verband: „Hallo Kerstin. Was machst du denn hier?“

      „Ach – Carla“, erwiderte Kerstin Überraschung heuchelnd. „Ich habe dich gar nicht erkannt. Ich mache hier das gleiche wie du: einen Sprachkurs.“

      „Ja klar.“, antwortete Carla in der gewohnten Redeweise der großen Schwester, die für immer und ewig, der jüngeren ein paar Schritte voraus ist.

      „Ich meine natürlich, was du hier an der Uni machst.“

      „Ach so. Ich studiere Diplompädagogik.“

      „Da musst du sicher auch bald fertig sein, oder?“

      „Nee, das ist mein Zweitstudium, ich habe gerade angefangen. Und du?“

      „Ich promoviere gerade.“

      „Ach, interessant. Und worüber?“

      „Ach das ist so fachspezifisch, das ist für Laien total uninteressant.“

      „Und brauchst du dafür Italienisch?“

      „Nein, das mache ich nur zur Ablenkung, damit ich nicht zur Fachidiotin mutiere. Und du?“

      „Ich weiß noch nicht, was ich damit mache. Vielleicht wandere ich mal aus. Vielleicht freue ich mich aber auch nur, dass ich im Urlaub problemlos mein Essen bestellen kann.“

      In diesem Stil setzten sie ihr Gespräch fort und es war nicht zu übersehen, dass sie sich gegenseitig nicht ausstehen konnten, Kerstin zog es zu Gennaro, der dummerweise heute mit Stefan in Richtung Caféteria abzog, aber sie war zu unhöflich, um Carla zu erklären, dass sie nun keine Zeit mehr habe.

      Kerstin verstand nicht warum das passierte, aber Carla heftete sich an ihre Fersen, wollte sich dauernd mit ihr verabreden, setzte sich im Sprachkurs neben sie und tauchte auch bei jedem noch so überschaubaren, privaten Kurstreffen auf. Allmählich schlich sich der Verdacht ein, dass sie es auf Gennaro abgesehen hatte und Kerstin als Trittbrett benutzte, vielleicht Gennaro auch nur erobern wollte, damit Kerstin ihn nicht bekam.

      Während der vorlesungsfreien Zeit beruhigte sich die Situation. Kerstin absolvierte einen Ferienkurs in den Marken, einer kleinen, intimen Schule in Belforte All'Isauro, wo sie auch Gennaros Familie auf dessen Drängen einen Besuch abstattete und sie hätte Carla einfach vergessen, hätte sie im neuen Semester nicht wieder schmierig grinsend neben ihr Platz genommen. In diesem Halbjahr bot sich ein Hallenbadbesuch nach dem Sprachkurs an, Kerstin musste dringend etwas für ihre Fitness tun und Schwimmen war ihre bevorzugte Sportart – gleich nach Radfahren, Spazierengehen und Sofadümpeln.

      Carla fand, regelmäßiges Schwimmen täte ihr auch mal wieder gut und hängte sich auch hier an Kerstin, was dieser nun wirklich ein Rätsel war. Carla erklärte, es fördere den gesunden Muskelaufbau, wenn man vor dem Schwimmen flüssiges Protein zu sich nehme, beispielsweise einen Trinkjoghurt. Sie bot Kerstin ebenfalls einen an und weil die zu höflich war, abzulehnen, wurde es bald zur Gewohnheit. Nach dem Schwimmen lud sie Carla dann zum Kaffee ein – widerwillig, aber unfähig, sich aus dieser einengenden Pseudofreundschaft zu lösen.

      Weihnachten stand vor der Tür und damit auch der letzte Hallenbadbesuch in diesem Jahr. Im Januar würde sie eine Ausrede finden, das Schwimmtraining vorerst ruhen zu lassen. Sie träumte davon, Weihnachten bei Gennaros Familie in Belforte zu verbringen, aber so weit waren sie noch nicht. Vielleicht wären sie auch nie so weit, wer wusste das schon.

      Das Uni-Bad war erstaunlich leer, außer Carla und Kerstin pflügte nur eine ehrgeizige Schwimmerin durchs Becken, die schon bald ihr Programm absolviert hatte und nur noch die Schwimmaufsicht war im Raum. Kerstin war besonders erschöpft, das lag wohl an der Vorweihnachtszeit, was sie sah, verlor an Schärfe und als Carla plötzlich schrie, untertauchte, wieder auftauchte, schrie, wieder untertauchte, nahm sie dieses Schauspiel nur wie durch einen Schleier wahr. Die Schwimmaufsicht sprang ins Becken um die junge Frau mit dem Wadenkrampf zu retten, wie gut, dachte Kerstin, dann ist ja alles in Ordnung und als das Wasser in ihre Lungen strömte, wunderte sie sich über das eigenartige Gefühl; danach wunderte sie sich über gar nichts mehr.

      Als Kommissar Keller den Obduktionsbericht las, schüttelte er mit dem Kopf. Wie konnte eine erwachsene Frau mit abgeschlossenem Studium, Job und weitergehender Perspektive nur so bescheuert sein und im Drogenvollrausch schwimmen gehen? Vermutlich hatte sie geplant, auf derartig spektakuläre Weise ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ihre Begleitung war ebenfalls entsetzt, hatte erklärt, dass sie sich schon sehr lange kannten und sie ihr eine solche Handlung niemals zugetraut hätte, dass sie aber schon seit längerem äußerst verzweifelt gewesen sei und oft davon gesprochen habe, dass es sich bei ihrem Leben um eine Sackgasse handele. Dass sie sich tatsächlich mit Suizidgedanken trug, war ihr aber nicht klar gewesen, dann hätte sie sich um Hilfe bemüht.

      Kerstins Akte wurde geschlossen. Und Carla konnte sie nun endlich auch schließen und neu durchstarten.

      Blutige Erben

      Es war ein gewaltiger Zug. Sie trugen ihn an einen Pfahl gebunden durch die Straßen, eine aufgewühlte Menschenmenge um ihn herum, wie bei einer sizilianischen Karfreitags-Prozession. Oder hing er an einem Kreuz? Sie konnte es nicht einmal sagen. Sein Rücken war gerade und in einer Kurve hatte sie kurz einen Blick auf sein Gesicht erhaschen können: starr und hölzern, wie bei einer Puppe.

      Sie wollte in Kontakt treten und in seine sehenden Augen blicken, die sie erkannten, aber das wollten alle anderen auch, sie sah nur von weitem seinen Rücken. Sie kämpfte sich weiter nach vorne, entschlossen, mit der Energie einer Verzweifelten. Ihr stockte der Atem: Seine Haut war fast schwarz, nicht dunkel pigmentiert, sondern so, als wäre sie verbrannt – oder verrottet.

      Sie stellte sich seinen Trägern in den Weg und blickte hoch in sein Gesicht, doch sie sah nichts als Leere darin. Sein Kopf kippte vornüber, ein Sterbender am Kreuz, ein Gekreuzigter, ein Gestorbener.

      Die Menge schob sie zur Seite und trug ihn weiter. Sie fiel, stand wieder auf, rannte hinter ihm her. Sie musste ihn berühren, wenn sie ihn nur einmal kurz anfassen könnte, dann würde er wieder atmen, zurückkehren.

      Sie schaffte es, legte ihre Hände auf seinen festen, geraden Rücken. Aber er war schwarz, seltsam hart und kalt. Nicht eiskalt wie eine erstarrte Leiche,

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