Kirche im freien Fall. Cristina Fabry

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Kirche im freien Fall - Cristina Fabry

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sie sich etwas einbildeten, konnte sie sie sicher wieder auf den Teppich holen. Also zog sie sich aus. So standen sie zu dritt, dicht beieinander, wie rauchende Teenager im uneinsehbaren Teil des Schulhofs. Sie überlegte noch kurz, ob sie sich wirklich die Haare waschen sollte, hatte sie doch gerade gestern gemacht, war noch nicht nötig, aber ach, frische, duftige Haare waren ja auch ganz schön. Und die Typen waren auch mehr miteinander beschäftigt, kein Grund zur Sorge, obwohl sie da so ein unterschwelliges Mal-gucken-ob-da-nicht-doch-was-geht spürte, aber das ließ sich ja, wie gesagt, abwenden. Dann flutschte ihr die Seife aus den Händen, schlitterte blitzschnell über die Fliesen, sodass sie nicht einmal auszumachen vermochte, wohin. Verdammt, muss ich mich jetzt nach der Seife bücken, so nackt wie ich bin? Blödes Klischee. Kurz und halbherzig halfen ihr die Typen bei der Suche, gaben aber schnell auf und waren wieder mit ihren Männerthemen beschäftigt, irgendetwas schrecklich Relevantes, was sie gar nicht interessierte. Sie suchte weiter nach der Seife, hinter der Kommode, unterm Waschbecken, hinter dem Vorhang, unauffindbar.

      Trübes Licht fiel durch das kleine Fenster, es war warm unter der Decke, aber auch einsam. Sie sehnte sich nach liebkosenden Händen, war aber zu träge, um nach nebenan zu gehen, wo sie sich hätte holen können, was sie begehrte. Alles viel zu anstrengend. Sie griff nach dem Nachschlagewerk auf ihrem Nachttisch, las mit zusammengekniffenen Augen – die Lesebrille steckte noch in der Handtasche – Dusche, Seife, Nacktheit, unbekannter Mann...sie fühlte sich also schuldig, wollte sich davon befreien, schaffte es aber nicht. Welche Schuld konnte das sein? Nachlässigkeit bei der Reduktion des ökologischen Fußabdrucks? Außereheliche erotische Phantasien? Die kleinen Vertrauensbrüche, wenn sie sich im angeregten Gespräch verplapperte? Dass sie nicht all ihren mittelständischen Reichtum den Ärmsten der Armen überließ? Oder waren es die Gewaltphantasien, die sie zunehmend heimsuchten?

      Als Kind hatte ihr noch die Vorstellung eines effektiven Kinnhakens gereicht, um boshafte Gesellen aus dem Weg zu räumen. Als Teenager träumte sie von der eigenen maschinengewehrsalvenartigen, wortgewaltigen Schlagfertigkeit, mit der sie ihre Gegner schachmatt setzen wollte. In den Zwanzigern erschrak sie zum ersten Mal heftig über sich selbst, als sie sich bei der Vorstellung ertappte, einen renitenten Jugendlichen so lange vor die Wand zu klatschen, bis das Blut spritzte. Aus der Nummer war sie herausgekommen, indem sie mit ihrem Chef darüber redete, eine Idee davon bekam, dass das Objekt ihres Hasses ein elendes Opfer seiner Verhältnisse war und so hatte sie sich ihm mit systematischer Pädagogik zugewandt, war durch die Schale seiner Abwehr zu seiner verletzten Seele durchgedrungen und hatte sich um Heilung bemüht, tatsächlich mit Erfolg. Aus dem Enfant terrible mit der Schwerverbrecherprognose war ein erfolgreicher, bürgerlicher Unternehmer geworden, mit reizender Gattin und ehrenwerter Presse. Seitdem hatte sie sich bei jedem garstigen Jungspund immer dieses Geschichte vor Augen geführt und sich in Empathie geübt, sich auch vom Scheitern nicht entmutigen lassen, denn sie scheiterte ja nicht jedes Mal.

      In den Dreißigern hatte das Gewaltpotential dann noch einmal angezogen. Da hatte sie nach der Lektüre eines Emma-Artikels über die Lage der Frauen in Afghanistan den glühenden Wunsch verspürt, sich bewaffnet mit einer Kalaschnikow in dieses Land zu begeben und die ganzen Frauenverächter wegzublasen, rattattattattatt umgemäht, bestraft, vernichtet. Sie wusste natürlich, dass sie dazu nicht in der Lage war, ebenso wenig wie zum Kinnhaken Verteilen oder zum Mundtotlabern mit flotten Sprüchen. Außerdem wusste sie auch, dass ein solches Vorgehen kein einziges Problem löste. Nicht einmal ein Tyrannenmord würde die Welt verbessern. Nicht Trump, Erdogan, Putin, Kim Jong Un, Johnson, Orban usw. waren das Problem. Das Problem waren die Leute, die diesen Brüllaffen ihre Stimme gaben, die ihre Macht legitimierten, die kein Erbarmen hatten mit denen, die darunter zu leiden hatten. Und wo war da ihre Schuld? Sie hatte die Neofaschisten in ihrem Land nicht gewählt, nicht einmal ihre Steigbügelhalter.

      Der Türklopfer riss sie aus ihren Gedanken. Wer konnte das sein? Der Postbote benutzte immer die Klingel, der Schornsteinfeger auch. Sie schälte sich aus dem warmen Bett, schlüpfte in den weißen Bademantel, band ihn ordentlich zu und fuhr sich mit den Fingern durch die von der Nacht zerwühlten Haare. Durch das gefrostete Glas konnte sie keine bekannte Kontur entdecken. Sie öffnete neugierig die Haustür und da stand er. Sie erkannte ihn sofort an seinen Zorn versprühenden, kleinen, grauen Augen. So ein armes, kleines Würstchen war er gewesen. Gekümmert hatten sie sich um ihn, sich seine Geschichte angehört, seine kruden Ansichten, mit ihm diskutiert, ihn ihre Sorge spüren lassen, ihn gewarnt, als sie Kenntnis davon hatten, dass er auf einer Abschussliste stand. Sie hatte so sehr gehofft, dass er die Kurve kriegen würde, sich von dem Wahnsinn abwenden würde, in den er da geraten war. Neulich hatte sie ihn gegoogelt. Auf seiner Facebook-Seite war ein Foto von einem Nazi-Konzert zu sehen, ein moderner Reichsparteitag, alle streckten den rechten Arm schräg nach oben, straff, stählern und zum Töten bereit. Er war kein armes kleines Würstchen mehr. Er war eine arme große Wurst und absolut nicht mehr zu retten. Aber was wollte er bei ihr?

      „Anja Delacroix?“ fragte er und sprach ihren Nachnamen „Delakreuks“ aus. „Delacroix“, verbesserte sie ihn instinktiv.

      „Auch noch 'ne Franzosenschlampe.“, stieß er hervor. „Hab' ich dich endlich gefunden, du dreckige, linke Zecke. Ich hab's euch ja damals schon gesagt. Wir kriegen euch alle.“

      Wie kam er dazu nach fast dreißig Jahren hier vor ihrer Tür zu stehen? Sie überlegte schnell, was sie erwidern sollte, doch bevor sie antworten konnte, blickte sie schon in das kalte, schwarze, frisch geölte Metallrohr, spürte kurz so ein unangenehmes Ziehen, zuerst im Nacken, dann im ganzen Rücken, sah dann in das orangerote Mündungsfeuer. Der weiße Bademandel färbte sich rot. Wäre ihr Haar noch schwarz gewesen, hätte sie glatt als Schneewittchen durchgehen können.

      Auf ihrem Grabstein stand nichts. Ihre Asche wurde in einem Friedwald beigesetzt. Und die große Wurst wurde nicht erwischt. Dieses Mal nicht.

      Ziel unbekannt

      Warme Milch mit Kurkuma – entzündungshemmend und gar nicht schlecht – besser als Ingwer. Man soll ja auf die Heilkräfte der Natur setzen – Apotheke Gottes und so. Wann sehen wir uns wieder? Wie oft noch? Das Leben ist eine Ansammlung von Zufällen, da hängt nichts zusammen. Sinn ist eine Illusion; und ob ich jetzt krank werde oder gesund bleibe, sterbe oder lebe, liebe oder hasse, ist irrelevant. Ich kämpfe um meinen Platz, mein Wohlbefinden, mein Leben genau wie alle anderen. Mal gewinnt man, mal verliert man und am Ende steht immer der Tod.

      Sie kriegen mich nicht, dachte Corrie. Ich bin ihnen immer ein paar Schritte voraus. Sie halten mich für beherrschbar, berechenbar, besiegbar – aber sie irren sich. Andere von meinem Format verfolgen eine bestimmte Zielgruppe, besonders Schwache zum Beispiel. Ich töte wahllos – und sie finden die Tatwaffe nicht. Wenn sie den Mord entdecken, bin ich längst über alle Berge, bei den nächsten Opfern. Tausende habe ich schon erwischt – und es werden immer mehr. Niemand kann mir entkommen, wenn ich ihn haben will, das haben sie nur noch nicht begriffen. Ich werde die Erde heilen von diesem widerlichen Virus Mensch, damit die Wunden heilen, die Entzündungen abklingen können und die grüne Lunge wieder frei durchatmen kann.

      Hausmittel, Gebete, Gottvertrauen – das sollte helfen – und wenn nicht, dann sehen wir weiter. Wir sehen uns wieder, so oder so. Das Leben ist eine Perlenkette der Ereignisse: bunt, schön, abwechslungsreich, manchmal geschmacklos, individuell und oft überraschend. Ob ich jetzt gesund bleibe oder krank werde, lebe oder sterbe, ist irrelevant. Entscheidend ist, dass ich liebe und nicht hasse, dass ich meinen Platz finde und ihn würdig ausfülle, dass ich mein Wohlbefinden nicht über das der anderen stelle. Mal habe ich Glück, mal muss ich leiden genau wie alle anderen und am Ende steht immer das Leben.

      Die zehnte Plage

      „Jetzt ist es soweit. Die neunte Plage ist gekommen und bis zur zehnten wird es nicht mehr lange dauern, denn sie kehren noch immer nicht um. Kaum jemand erkennt

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