Die Chancengesellschaft. Rainer Nahrendorf

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Die Chancengesellschaft - Rainer Nahrendorf

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532 Einwohner in der Gemeinde.

      Den Heimvorteil in Weiler verdankt Andrea Nahles der Bodenständigkeit der Familie Nahles und ihrer Heimattreue, vielleicht auch ein wenig dem Fest, zu dem sie das ganze Dorf auf ihren Hof eingeladen hat. Vater Nahles hat den alten Backes auf ihrem Hof angeheizt, Andrea Nahles und ihre Mutter backen herrlich duftendes Brot und Kuchen, die von ihrem Vater destillierten Obstbrände sorgen für beste Stimmung. Andrea Nahles wohnt auf dem über 250 Jahre alten Bauernhof ihrer Urgroßeltern mütterlicherseits. Ihr Vater, der Maurermeister Alfred Nahles, hat ihn restauriert und modernisiert. Auf dem nahen Reiterhof steht ihr Pferd „Siepke“, ein großer schwarzer Friese mit buschiger Mähne.

      Die Familie Nahles engagiert sich im Dorf. Der Vater hat den Kirchenchor gegründet und lange geleitet, ihr jüngerer Bruder hat die Orgel in der Kirche gespielt, heute sitzt ihre Cousine auf der Orgelbank. Andrea Nahles Mutter, eine Ex-Finanzangestellte, ist im Verwaltungsrat der Pfarrgemeinde und für deren Kasse zuständig.

      Andrea Maria Nahles wächst in einem gut katholischen Elternhaus auf. Sie besucht die Zwergschule im Ort, in der ein Lehrer die erste und die zweite Klasse zusammen in einem Raum unterrichtet, wird Messdienerin und arbeitet in einer ökumenischen Jugendgruppe mit.

      Nach der Grundschule wechselt sie auf die Realschule, obwohl sie eine Gymnasialempfehlung hat. Die Eltern trauen es sich finanziell nicht zu, die Tochter und ihren Sohn gleichzeitig auf das Gymnasium zu schicken. Das traditionelle Rollenbild im Kopf, entscheiden sie, dass Andreas Bruder das Gymnasium besuchen, die Tochter auf die Realschule gehen und eine Banklehre beginnen soll. Der Bruder besucht das Gymnasium und macht später als Arzt Karriere.

      Andrea Nahles bleibt bis zur zehnten Klasse auf der Realschule. Ihre Realschullehrer setzen sich dafür ein, dass sie auf das Gymnasium wechselt. Sie nimmt noch auf der Realschule an Vorbereitungskursen teil, verbessert unter anderem ihr Englisch, und geht mit fünf anderen Schülern auf das Gymnasium. Statt die Spätwechsler zu ermutigen, legen es einige Gymnasiallehrer darauf an, die ehemaligen Realschüler vorzuführen. Ein Deutschlehrer nimmt Andrea Nahles sechs Wochen immer wieder dran, um zu beweisen, dass Realschüler wenig können. Das Bloßstellen gelingt jedoch nicht. In Deutsch ist Andreas Nahles ein Ass. „Es war wirklich übel. Statt die Durchlässigkeit zu fördern, erwartete mich zunächst eine Kette von Entmutigungen.“

      Sie muss zudem in der Zeit des Wechsels von der Realschule auf das Gymnasium viele Wochen wegen eines Sehnenabrisses im Krankenhaus verbringen. Die Hälfte ihrer Gymnasialzeit kann sie nur mit Krücken gehen. Obwohl schon der Übergang auf das Gymnasium und die körperlichen Beeinträchtigungen viel Kraft erfordern, übernimmt sie noch die Chefredaktion der Schülerzeitung „Morjen“. Einmal findet eine Redaktionssitzung bei ihr im Krankenhaus statt. Sie macht ein gutes Abitur. Alle fünf ehemaligen Realschüler liegen mit ihren Abiturnoten im oberen Drittel.

      Zweifel, ob sie das Abitur schafft, hat Andrea Nahles nicht gehabt. Aber von ihrer Selbstwirksamkeit ist sie nicht einhundertprozentig überzeugt. In ihrem kurz nach der Bundestagswahl 2009 erschienen Buch „Frau, gläubig, links. Was mir wichtig ist“ wirbt sie für eine „Kultur des Zweifels“. Im Gespräch sagt sie: „Ich bin immer von Selbstzweifeln geprägt gewesen, habe sie mir aber nicht anmerken lassen. Ich habe jedoch einen guten Antritt, überwinde Zweifel und entscheide schnell. Diese Entscheidungsstärke zeichnet mich aus. Ich stehe auch zu meinen Entscheidungen, selbst wenn sie sich als falsch erweisen“. Dieses Verhalten hat sie von klein auf gelernt. In der Nahles-Familie gibt es kein „Vertun“, was man angefangen hat, muss man, so gut es geht, zu Ende bringen. Halbe Sachen macht Andrea Nahles nicht. Für sie gilt immer „volle Kraft voraus“. Sie ist wie ihr Vater ein Energiebündel. Vorsicht und exaktes Planen hat sie von der Mutter gelernt, die Wert darauf legt, ihre Kinder früh zur Selbstständigkeit zu erziehen.

      Einen der wichtigsten Werte der Familie Nahles lebt die Großmutter vor: ein starkes Arbeitsethos. Sie führt die sechsjährige Andrea an Aufgaben und Pflichten in der Familie heran und bereitet sie darauf vor, dass das Leben kein Zuckersch lecken ist.

      Ihr starkes Interesse an der Geschichte sensibilisiert Andrea Nahles schon in der Schule für die Politik. Hinzu kommt der Einfluss der Ökobewegung. Als in Kaiseresch und Mayen, im Umkreis von 15 Kilometern zu Weiler, gleich zwei Müllverbrennungsanlagen gebaut werden sollen, engagiert sich die Siebzehnjährige in einer vom BUND für Umwelt und Naturschutz koordinierten Bürgerinitiative. Beide Anlagen werden nicht gebaut. Andrea Nahles erkennt, dass man mit Argumenten und Mehrheiten in den Stadträten etwas verändern kann.

      Mit 18 Jahren tritt Andrea Nahles 1988 der SPD bei. Der Zufall will es, dass die SPD in diesem Jahr 125 Jahre alt wird. Wenige Wochen später gründet sie in Weiler einen SPD-Ortsverein.

      Als Grund für ihren Eintritt in die SPD nennt Andrea Nahles ihren Gerechtigkeitssinn. Die Gesellschaft sei 1988 in dem über viele Jahrzehnte von der CDU regierten Rheinland-Pfalz noch sehr hierarchisch strukturiert gewesen. Wer zu den „besseren Leuten“ gehören wollte, habe Unternehmer oder ein hohes Tier in der CDU sein müssen.

      Andrea Nahles arbeitet neben der Schule als freie Mitarbeiterin der Rheinzeitung. Sie will damals noch Journalistin werden. Durch ihre freie journalistische Tätigkeit erhält sie Einblick in die Kommunalpolitik und in die Arbeit der Parteien. Sie gewinnt den Eindruck, für junge Frauen wie sie, die Ehrgeiz haben und etwas bewegen wollen, sei kein Platz in der Union. Diese von ihr empfundene Situation in der Union verletzt für sie die Chancengerechtigkeit der Geschlechter, eine von ihr immer wieder gemachte Erfahrung. Hinzu kommt die Überzeugung, solidarisch helfen zu müssen, wenn andere auf Unterstützung angewiesen sind, so wie es ihre Mutter tut, als sie die Vormundschaft für eine blinde Tante übernimmt.

      Gerechtigkeit üben heißt für Andrea Nahles aber vor allem, Partei zu ergreifen für die Benachteiligten und Wehrlosen, für Schüler, die von anderen gemobbt werden oder für einen Schüler aus einer sozial schwachen Familie, der von den Lehrern nicht gefördert sondern besonders schlecht behandelt wird. Solche Vorfälle werden in der Familie Nahles diskutiert und als ungerecht gebrandmarkt. Wenig Sympathie gibt es in der Familie für jene, die arbeiten könnten, aber es nicht tun. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wird auch die spätere Politikerin Andrea Nahles immer ablehnen.

      Nach dem Abitur am Gymnasium in Mayen studiert Andrea Nahles ab 1990 an der Bonner Universität Politik, Philosophie und Germanistik. Als sie Bundesvorsitzende der Jungsozialisten wird und eine 60-Stunden-Woche hat, muss sie das Studium zunächst ruhen lassen. Sie schließt es aber trotz der Doppelbelastung ab, als Magistra Artium bei dem Germanisten und Literaturwissenschaftler Professor Jürgen Fohrmann, dem späteren Rektor der Universität. Der Titel ihrer Magisterarbeit lautet: „Über die Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman“. Sie sei insofern für ihre Arbeit in der SPD gut vorbereitet gewesen, sagt sie mit einem verschmitzten Lachen, weil Katastrophen in den Beziehungen zwischen Parteimitgliedern auch immer wieder vorkommen. Auch das konzeptionelle Denken, das vernetzte Denken in systemischen Zusammenhängen habe sie im Studium gelernt. Dieses strukturierte Denken, das gute Gefühl für Menschen und für Situationen habe ihr in der politischen Arbeit sehr geholfen. Die 2004 angefangene Promotion über „Walter Scotts Einfluss auf die Entwicklung des historischen Romans in Deutschland“ kann sie nicht beenden. Die vorgezogene Bundestagswahl 2005 kommt dazwischen. Sie entscheidet sich gegen eine universitäre Laufbahn und für eine politische Karriere. „Mich drängt es, etwas zu bewegen und zu gestalten.“

      Einen Masterplan für ihre politische Karriere hat Andrea Nahles nicht. Durch die Gründung des Ortsvereins in Weiler werden die Untergliederungen des Jungsozialisten und der Landespartei auf sie aufmerksam. Nahles wird schnell stellvertretende Kreisvorsitzende, dann Kreisvorsitzende der Jusos in Mayen-Koblenz, 1992 stellvertretende Juso-Landesvorsitzende. Mit 23 Jahren führt sie ab 1993 den Landesverband der Jusos. Sie will für zwei Jahre Landesvorsitzende bleiben, um danach ihr Studium zu beenden. Im Mai 1995 gibt sie deshalb den Landesvorsitz der Jusos auf. Aber es kommt anders. Im Mai tagt auch der Juso-Bundeskongress in Gera. Der

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