Die Chancengesellschaft. Rainer Nahrendorf

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Die Chancengesellschaft - Rainer Nahrendorf

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Trainee-Stellen sind zu vergeben, hundert Bewerber reißen sich darum, erfahrene, hochgebildete, alle weit älter als Henkel. Die zwei Jobs, die er schon in der Tasche hat, machen ihn mutig. Henkel bewirbt sich, obwohl er sich keine Chance ausrechnet. Er möchte die Reisespesen einstreichen.

      Die Bewerber müssen sich einem Test-Marathon stellen. Einer von ihnen hat ein Doppelstudium, ist Diplomkaufmann und Ingenieur, Henkel ist nur Schmalspurkaufmann. Die Tests machen Henkel Spaß, er zeigt Ehrgeiz, will sich gegenüber den Älteren beweisen. Am nächsten Tag wird er zur mündlichen Prüfung gebeten. Die schriftliche hat er bestanden, aber jetzt sieht alles nach einem schnellen Abgang aus. Einer der drei Topmanager, die die Kandidaten, auswählen, entdeckt, dass Henkel mit 21 Jahren für das Programm viel zu jung ist. IBM suche berufserfahrene Leute mit akademischer Ausbildung.

      So schnell lässt sich Henkel aber nicht entmutigen. Er verweist auf seine Ausbildung zum Speditionskaufmann und auf seinen Studienabschluss, meistert das Frage- und Antwortspiel psychologisch geschickt und erhält das Angebot, für eine Vertriebslaufbahn ausgebildet zu werden. Für das Management-Traineeprogramm sei er nun einmal zu jung.

      Die Vertriebslaufbahn ist die klassische Karriere bei IBM. Aber Henkel lehnt das Alternativangebot ab. Darum habe er sich nicht beworben, er sei wegen des Management-Trainee-Programms gekommen, hält er den konsternierten IBM-Managern entgegen. Um die Situation zu entspannen, fragt einer der Manager nach seinen Hobbys. Henkel antwortet „Musik“. Das stimmt, denn Henkel ist ein Jazz-Fan und auch ein Fan der Beatles. Das sagt er aber nicht, als die Nachfrage kommt „Welche Musik?“ Er sagt Händel. Auf die weitere Frage, was ihm an Händel gefalle, antwortet er: „Händel swingt“. Henkel bemerkt, dass sich das Blatt zu seinen Gunsten wendet, er lobt die Atmosphäre bei IBM und äußert den Wunsch, bei IBM zu bleiben. Die Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Henkel bekommt eine der Traineestellen.

      Seinen Eintritt in die amerikanische Firma sieht Henkel als Glücksfall. Bei Siemens, Krupp, VW oder beim Staat wäre er mit seiner Art jämmerlich gescheitert, mutmaßt Henkel. Weshalb die IBM trotz des Strukturwandels, in dem viele Firmen untergegangen sind, überlebt hat, führt Henkel auf wenige Prinzipien zurück. Dazu zählen für ihn der Respekt vor dem Einzelnen, die Ehrlichkeit gegenüber Kunden, das Verbot jeglicher Bestechung und die Unbestechlichkeit der Mitarbeiter und Manager, auch die Verbannung von Alkohol während der Arbeit und bei Veranstaltungen.

      Die kastenlose Unternehmenskultur bei IBM, der unkomplizierte, kameradschaftliche Umgang von Topmanagern und Mitarbeitern faszinieren Henkel. Das „Open Door“-Programm erlaubt es jedem Mitarbeiter, sich bei höheren Vorgesetzten bis hin zur Unternehmensführung über den direkten Vorgesetzten zu beschweren, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Einmal im Jahr werden die Mitarbeiter nach Kriterien beurteilt, die Vorgesetzte und Mitarbeiter gemeinsam in einem Beratungs- und Förderungsgespräch erarbeitet haben. Allein die Leistung zählt und zahlt sich aus.

      Alle zwei Jahre werden die Mitarbeiter anonym befragt, was sie von den Produkten und von den Vorgesetzten halten. Die Beurteilung durch die Mitarbeiter wird den Managern mitgeteilt. Dabei ist sichergestellt, dass der Vorgesetzte auch nicht indirekt feststellen kann, wer ihn wie beurteilt hat. Das System sorgt dafür, dass Manager, die ihre Mitarbeiter schlecht behandeln, mit Ellbogen oder Tricks arbeiten, nicht nach oben kommen. Das Motivieren und die gute Führung der Mitarbeiter sind wichtige Voraussetzungen, um auf der IBM-Karriereleiter aufzusteigen. Henkel erfüllt sie. Die Leistungs- und Aufstiegskultur von IBM ist wie für ihn geschaffen.

      Geplant wird bei IBM auf lange Sicht. Jedes Jahr muss der Jungmanager Henkel dem IBM-Deutschlandchef eine Liste vorlegen. Sie muss fünf Kandidaten benennen, die sein Nachfolger werden sollten. Ferner muss sie den Kandidaten bestimmen, der ihm sofort folgen kann, falls er plötzlich gehen müsste. Im Jahre 1986 und 1988 muss Henkel bereits das Team 2000 vorstellen, wer dann die IBM-Deutschland führen könnte. Einer der von ihm vorgeschlagenen Kandidaten wird später tatsächlich Deutschlandchef der IBM.

      Ungeschriebene Verhaltenscodes gibt es auch bei IBM. Kundenbesuche haben im dunklen Anzug, weißem Hemd und Krawatte stattzufinden, die Vertriebsmitarbeiter fahren auch nicht im Sportwagen vor, nur einen Hut müssen sie nicht mehr tragen, als Henkel in die Firma kommt. Wert gelegt wird auf eine gute Allgemeinbildung und auf eine intakte Familie.

      Henkel hat sein Trainee-Programm noch nicht beendet, als er davon Wind bekommt, dass die IBM auf der Weltausstellung 1964 in New York einen eigenen Pavillon mit modernster Technologie errichten will und junge IBMler für die Betreuung ausländischer Gäste sucht. Vom Fernweh gepackt bemüht er sich, mehr schlecht als recht Englisch sprechend, um den Job. Den angereisten Amerikaner, der die Kandidaten bestimmt, treibt er listenreich so in die Enge, dass dieser gar nicht anders kann, als ihm den Job anzubieten. Im Februar 1964 betritt er zum ersten Mal das Land seiner Sehnsucht, das Land des von ihm geliebten Jazz, das Land der Kennedys und der IBM. Die fast unbegrenzte Freiheit des Landes zieht ihn in ihren Bann. Als der IBM-Pavillon schließt, weiß Henkel, die USA sind sein Land. Zurück in Deutschland wird er in eine Abteilung für Computer Services gesteckt.

      In Sindelfingen langweilt sich Henkel. Als der für Indien zuständige Gebietsmanager nach Sindelfingen kommt und einen Mitarbeiter für die Installation eines Stücklistenprozessors sucht, bewirbt sich Henkel. Er erhält den Job in Kalkutta vor allem, weil er mittlerweile fließend Englisch spricht. Von Stücklistenprozessoren hat er keine Ahnung. Diese eignet er sich in einem Crashkurs an. In seinen Memoiren schildert Henkel, wie er für die Inder zum Computerheld aus Germany wird. Als Hero von seinen Mitarbeitern gefeiert wird er, als er auf dem Ganges Wasserski läuft. Die Skier sind Bretter, die ihm ein Tischler angefertigt hat. Ein indischer Guru hatte zuvor behauptet, er könne auf Wasser laufen, war aber kläglich in den Fluten untergegangen. Henkel hatte daraufhin erklärt, er könne, was dem Guru misslungen ist. Das hatte sich schnell herumgesprochen. Tausende Menschen jubeln ihm zu, als er als der erste Mensch auf dem Ganges mit seinen Skiern über das Wasser gleitet. Wasserskilaufen kann Henkel bereits. Nur die Kühe, die mit aufgeblähten Bäuchen an ihm vorbei treiben, und die Asche der Verbrannten, die von den Feuerstätten in den Fluss geweht wird, setzen ihm zu.

      Eigentlich hätte Henkel nach Sindelfingen und Böblingen zurückkehren müssen, aber wieder weiß er einen Zufall zu nutzen und landet als Country General Manager in Ceylon. 1969 hilft dann alles Sträuben nichts mehr, er muss nach Deutschland zurückkehren, erhält aber eine interessante Aufgabe. Er soll in München ein weltweit operierendes Beratungszentrum für die Fertigungsindustrie aufbauen. Mit seinen Mitarbeitern entwickelt Henkel ein Konzept, das COPICS genannt wird. Es soll als Basis für die Anwendungsentwicklung in der Fertigungsindustrie dienen. Er stellt es der Konzernmutter in den USA vor und empfiehlt, COPICS zu programmieren. Die Software sollte dann in den IBM- Computern eingesetzt werden.

      IBM, noch ganz eine weltweit führende Hardware-Company, lehnt das ab, steht auf dem Standpunkt, die Kunden sollten sich die Anwendungen selbst programmieren. Ein Riesenfehler, kommentiert Henkel die Ablehnung. Er kann sich nicht durchsetzen.

      Vier seiner Kollegen machen sich daran, auf eigene Rechnung Standardanwendungen zu entwickeln. Sie werden SAP-Milliardäre. Henkel ist zwar über die Konzernmutter frustriert, steht auch auf dem Sprungbrett, aber hat nicht den Mut, sich wie seine Kollegen selbstständig zu machen. Das Risiko ist ihm zu groß. Er hat bereits zu viel bei IBM zu verlieren. Kein anderer IBM-Manager ist in jungen Jahren so weit gekommen wie er. Außerdem hat er Familie mit Frau und Tochter.

      Ein sozialer Aufsteiger ist Henkel nicht. Er ist in einer großbürgerlichen, gut situierten Hamburger Kaufmannsfamilie aufgewachsen, die zunächst in einer Villa in einem besten Hamburger Stadtteile und dann in einer herrschaftlichen Wohnung lebt. Er ist ein Bildungs- und Karriere-Aufsteiger. Er ist ein besonders cleverer Unternehmer seines Lebens, immer auf der Suche nach Chancen voranzukommen, sei es bei der Aufnahme in die Akademie, bei der Bewerbung bei IBM, beim Job im IBM-Pavillon in New York, in Indien und in Ceylon. Er hat eine Nase für Chancen, findet sie und nutzt sie entschlossen, mit einem starken Selbstvertrauen und einem Schuss Kühnheit. Von

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