Die Chancengesellschaft. Rainer Nahrendorf

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Die Chancengesellschaft - Rainer Nahrendorf

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er immer wieder an das Grab zurück.

      Der Vater Hans Henkel war ein Erfolgsmensch, die Mutter, eine nordische, aus einfachen Verhältnissen stammende Schönheit, war es auch. Sie wollte aufsteigen, hatte den Willen zum Glück und fand es in der Ehe mit dem tüchtigen und lebenslustigen Geschäftsmann Hans Henkel. Hans-Olaf, sechs Jahre nach seiner Schwester Karin geboren, ist in seinen ersten Schuljahren alles andere als ein Erfolgsmensch. Das eine Mal fliegt er von der Schule, das andere Mal muss er sie verlassen, weil er nicht mitkommt, dann wieder muss er eine neue Schule besuchen, weil er umzieht. Während seiner Kindheit besucht er sieben Schulen und lebt in drei Heimen.

      Mit der Mutter, die nicht weniger erfolgreich als der Vater die Generalvertretung weiterführt, stößt der kleine Hans-Olaf immer häufiger zusammen. Sie ist ihm nicht nur zu exzentrisch, sondern auch zu streng, zu autoritär. Der aufmüpfige Sohn verträgt das nicht. Selbstkritisch räumt Henkel ein, er habe seiner Mutter mit seinen ständigen Widerworten und dem Infragestellen ihrer Autorität häufig Unrecht getan. Die drei Henkel-Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, fühlen sich nicht innig geliebt. Noch heute klingt ihnen die Warnung der Mutter im Ohr: „Schafft euch bloß keine Kinder an.“ Die Kinder sind der Mutter, die schon durch das Geschäft stark gefordert ist, zu einer Last geworden, die sie schwer allein tragen kann. Da sie selbst auf eigenen Füßen stehen muss, sollen auch ihre Kinder früh selbstständig werden. Das Fördern früher Selbstständigkeit ist ein eigentlich Erfolg versprechendes Erziehungsprinzip. Aber Hans-Olaf Henkel, von der Mutter für einundeinhalbes Jahr in ein strenges katholisches Nonnenstift gesteckt, fühlt sich ausgestoßen.

      Nach zwei weiteren Schulwechseln und erneuten Auseinandersetzungen meldet die Mutter den Vierzehnjährigen im „Rauhen Haus“ an. Der Name trügt, wie Henkel bald bemerkt. Er rührt nicht von rauen Erziehungsmethoden, sondern von der rauen Außenfassade des ersten Hauses des 1832 gegründeten Wichern-Stiftes her. Aus dem Stift hat sich die Diakonie entwickelt. Das „Rauhe Haus“ gilt als Heim für problematische Kinder. Die Kinder und Heranwachsenden werden dort nach dem Familienprinzip erzogen. Ein Diakon betreut wie ein älterer Bruder jeweils zehn bis zwölf Kinder. Henkel verbringt ein halbes Jahr im „Rauhen Haus“. Die Fürsorge der Diakone tut ihm gut. Der Knoten platzt. Er fühlt sich an die Hand genommen und beginnt zu lernen. Später, auf der Hochschule für Wirtschaft und Politik, wird er bei Ralf Dahrendorf eine Abschlussarbeit mit dem Thema schreiben: „Die soziale Herkunft der Diakone der Inneren Mission und Gründe für den Eintritt in die Diakonie“.

      Anderes als zu lernen bleibt ihm auch nicht übrig, denn die Mutter hat ihm Auswege versperrt. Henkel entdeckt, dass ihm im „Rauhen Haus“ mehr Freiheit gewährt wird, wenn er sich anstrengt. Das weckt seinen Ehrgeiz und trägt Früchte. Nach kurzer Zeit steigt er in eine andere Familie auf, in der es weniger streng zugeht. Er wird einer der besten Schüler in der Klasse und darf das Heim verlassen. Es ist ein erstes Erfolgserlebnis, er hatte aus eigener Kraft etwas erreicht. Auf einer Schule im Hamburger Stadtteil Poppenbüttel macht Henkel die mittlere Reife. Das Abschlusszeugnis fällt durchschnittlich aus.

      Erste unternehmerische Erfahrungen sammelt der Kaufmannssohn mit sechzehn Jahren. Die Mutter ist zu ihrem neuen Lebensgefährten, dem Shanty- und Balladen-Sänger Richard Germer, an die Elbchaussee gezogen und hat ihre bisherige Fünfzimmer-Wohnung dem Sohn überlassen. Sie zahlt die Miete weiter. Hans-Olaf, der nur zwei der fünf Zimmer für sich benötigt, kann drei Zimmer untervermieten und von den Einkünften leben. Damit hat die Mutter erreicht, was ihr schon immer wichtig gewesen ist: Den Kindern zu ermöglichen, auf eigenen Füßen zu stehen. Hans-Olaf Henkel genießt die Freiheit und lernt, mit Geld umzugehen.

      Am liebsten wäre er nach der mittleren Reife auf die höhere Handelsschule gegangen, um das kaufmännische Abitur zu machen. Aber die Mutter hat dem Sechzehnjährigen schon eine Lehrstelle als Speditionskaufmann bei Kühne und Nagel besorgt. Die Ausbildung bei der international tätigen Speditionsfirma, die häufige Tätigkeit im Hamburger Hafen, das Aufsuchen der Konsulate, wecken in ihm das Fernweh. Es wird ihn Zeit seines Lebens begleiten.

      Als das Ende seiner Lehrzeit näher rückt, seine Freunde und Freundinnen das Abitur machen und sich auf ein Studium vorbereiten, nagt es an Henkels Selbstbewusstsein. Er möchte nicht von seinen Freunden überholt werden, will nicht als der hängen gebliebene Mittelschüler gelten, der es nur zu einer Lehre gebracht hat. „Das hat mich unwahrscheinlich gewurmt“, erinnert er sich. Eine verletzungsbedingte Stiefelunverträglichkeit bewahrt ihn davor, zur Bundeswehr eingezogen zu werden. Henkel wägt zwischen drei sich ihm bietenden Alternativen ab: Entweder bei Kühne und Nagel als kaufmännischer Angestellter zu bleiben, oder das mütterliche Geschäft, den Verkauf von Papierprodukten, zu übernehmen. Darin kann er aber nicht den Sinn seines Lebens sehen. Die dritte eröffnet sich ihm bei der Lektüre der Zeitung. Er hat sich schon als älterer Schüler zu einem gründlichen, vor allem an Politik interessierten Zeitungsleser entwickelt. Henkel entdeckt einen Artikel über ein Institut des zweiten Bildungsweges. Es heißt damals noch „Akademie für Gemeinwirtschaft“, für gemeine Wirtschaft, wie Henkels Freunde lästern. Später wird aus dieser Akademie die Hochschule für Wirtschaft und Politik. 2005 wird die Hochschule, an der viele Gewerkschaftsführer, Politiker wie Björn Engholm und Unternehmenschefs wie Heinz Ruhnau ausgebildet werden, als Fachbereich Sozialökonomie in die Hamburger Universität eingegliedert.

      Henkel beschließt, sich um einen Studienplatz an der Akademie zu bewerben, obwohl er erst neunzehn Jahre alt ist. Das Aufnahmealter liegt bei zwanzig Jahren. Um die 80 Studienplätze bewerben sich 1800 junge Menschen. Das Prüfungsthema für die schriftliche Arbeit lautet: „Nutzen und Fragwürdigkeit des Vorstoßes des Menschen in den Weltraum“. Henkel schildert das Pro und Kontra und kommt zu dem Ergebnis, die Menschen sollten sich auf das Abenteuer einlassen. Später erfährt er, sein Aufsatz sei mit „Sehr gut“ bewertet worden.

      Er besteht die schriftliche Prüfung und wird zu einem Gespräch eingeladen. Einer der strengen Herren der Prüfungskommission bemerkt, dass Henkel für die Zulassung zum Studium zu jung ist und weist ihn mit der gut gemeinten Bemerkung ab, er könne in einem Jahr wiederkommen. Für Henkel bricht eine Welt zusammen. Er reklamiert, Alter hin oder her, er habe doch die schriftliche Prüfung bestanden, und protestiert, die Abweisung raube ihm alle Perspektiven. Henkel redet sich in Rage. Dann kommt ihm die rettende Idee, die Unternehmerkarte zu spielen. Trotz mangelnder Erfahrung ist ihm klar, dass die Akademie im Vergleich zu den traditionellen Universitäten unter dem Imageproblem leidet, die Kaderschmiede der Gewerkschaften und der Gemeinwirtschaft zu sein. Unternehmerkinder an der Akademie könnten helfen, denkt sich Henkel, das Image zu korrigieren. Als die Prüfer fragen, was er nach dem Studium machen wolle, gibt er an, das Geschäft seiner Mutter übernehmen zu wollen. Henkel hat die Schwachstelle in der Psyche der Professoren gefunden. Seine Beharrlichkeit imponiert den Herren. Er bekommt einen Studienplatz und wird der jüngste Student der Akademie.

      Die Aufnahme an der Akademie für Gemeinwirtschaft wertet Henkel als die entscheidende Weichenstellung seines Lebens. Der Spätentwickler hat eine zweite Chance erhalten, kann ohne Abitur studieren. Diese zweite Chance nutzt er, studiert fleißig, macht 1961 sein Abschlussexamen. Es schließt die allgemeine Hochschulreife ein. Nach einem Gespräch mit der Mutter entschließt sich Henkel jedoch nicht weiter zu studieren, obwohl ihm drei Semester angerechnet worden wären, sondern sich einen guten Job zu suchen.

      Nach vielen Jahren fragt er sich, ob es nach dem Studium nicht doch besser gewesen wäre, er hätte sich selbstständig gemacht, das Geschäft der Mutter übernommen und es in ein PC-Geschäft umgewandelt. Mit PC-Firmen lässt sich damals viel Geld verdienen. Er hätte, spinnt Henkel den Faden weiter, das Geschäft dann Ende der neunziger Jahre verkaufen und einige Millionen erlösen können, wie es viele andere getan hätten. Doch die Selbstständigkeit bleibt ein Gedankenspiel. Henkel bewirbt sich bei der Schlieker-Werft, die einen EDV-Spezialisten sucht. Davon versteht er noch wenig, aber bekommt eine Zusage. Er bewirbt sich auch bei Infratest, dem Münchener Umfrageinstitut. Das Institut stellt ihm ein Stipendium in Aussicht. Dann sticht ihm eine ganzseitige Anzeige der IBM ins Auge. Die Computerfirma sucht Kandidaten für ihr Management-Trainingsprogramm. Henkel

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