Karibien. Xaver Engelhard

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Karibien - Xaver Engelhard

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zu sagen.

      „Dann werd’ ich dich mal wieder los machen.“ Er legte das Foto beiseite und begann, erfolglos an einem der Knoten zu nesteln.

      „Ich spür’ im rechten Fuß schon gar nichts mehr. Du warst wirklich ziemlich grob.” Sie sah zu, wie er auf seiner Werkbank nach dem Messer suchte, das er sonst zum Abisolieren von Kabeln benutzte. „Kriegst du nicht schlimme Gedanken, wenn du mich so wehrlos daliegen siehst?” Sie klimperte mit den Wimpern.

      „Wie meinst du das?”

      Sie verdrehte die Augen.

      „Na wie wohl!“, knurrte sie verärgert. „Denk’ mal nach! Und wenn dir nichts einfällt, frag’ deinen Kumpel Schmiss! Ich bin mir sicher, der kann dir weiterhelfen, verdorben wie der is’.”

      Rodney biss sich auf die Lippe und machte sich daran, die Schnüre an ihren Fußgelenken durchzuschneiden.

      Es gab noch ein wenig Licht am grauen Himmel, auch wenn dessen Ursprung ein Rätsel war. Riesige Sattelschlepper donnerten über die vierspurige Hauptstraße, als würden die immer gleichen Baumstämme von rechts nach links und von links nach rechts transportiert zur reinen Machtdemonstration. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite verschwammen im Dunst, der nasse Asphalt davor wölbte sich wie eine Welle. In den wenigen Schaufenstern, die nicht mit Brettern vernagelt waren, blinkten ein paar grüne und rote Sterne. Hoch über der Straße hing ein Rentier aus Glühbirnen, von denen bereits mehr als die Hälfte Steinwürfen und Gewehrschüssen zum Opfer gefallen war, denn seit ewigen Zeiten hatte ein bedeutender Teil der Bevölkerung Wilbournes den Ehrgeiz, sie bis zum Weihnachtstag alle auszulöschen, und dass so spät im Jahr noch so viele von ihnen brannten, war daher kein Zeichen der Hoffnung, sondern paradoxerweise ein weiteres Indiz für den Verfall der Stadt und den Niedergang ihres speziellen Brauchtums. Ein blauer Camarro, ein hochbeiniger Bronco, der eine oder andere verrostete Pritschenwagen rollten langsam vorüber, eine gelangweilte, hohläugige Besatzung an Bord, blieben stehen, beschleunigten kurz mit quietschenden Reifen, verschwanden in einer Nebenstraße, tauchten aus einer anderen wieder auf. Zwei Fußgänger konnten sich gerade noch auf den Beinen halten, ein anderer war bereits zu Boden gesunken und lag neben einer Mülltonne im Nieselregen.

      Rodney stellte seinen Lieferwagen am Straßenrand ab, was einfach ging, weil fast alle Parkbuchten leer waren. Er stieg aus, schlug den Kragen hoch und lief an der ehemaligen Eisenwarenhandlung und der früheren Redaktion des Wilbourne Sentinel vorbei zum Sea Mist Cafe, an dessen Vordach ein ursprünglich weißes, inzwischen graues Banner hing, auf dem Ja zum neuen Stadtzentrum! stand. Rodney schlüpfte durch die Tür, blieb stehen, blies sich fröstelnd in die Hände und sah sich um. Ein paar Resopaltische standen verloren auf Chrombeinen herum. Weiter hinten durch zwei Gummibäume vom eigentlichen Café abgetrennt, liefen eine Waschmaschine und ein Trockner. Waldo saß an seinem gewohnten Platz ganz vorne in einer Ecke, deren Fenster Ausblick in zwei verschiedene Richtungen auf dasselbe triste, verregnete Elend boten, bearbeitete mit den Kiefern unermüdlich einen Nikotinkaugummi und brütete über einem Schachproblem.

      „Matt in vier Zügen“, brummte er, ohne aufzublicken, als Rodney seine nasse Jacke über einen Stuhl hängte und sich zu ihm setzte. Sie waren zusammen mit einem Indianer, der sich bis auf die Boxershorts und das T-Shirt ausgezogen hatte und im Schutz einer zerschlissenen Zeitschrift voller Berühmtheiten aus Hollywood darauf wartete, dass seine Wäsche fertig wurde, die einzigen Gäste des Cafés. „Und sie sagen dir nicht, wer wen matt setzt. Der Kerl, der sich das ausgedacht hat, ist ein verfluchtes Genie. Ich hock’ jetzt schon den ganzen Tag daran. Ich wette, er ist Russe.” Die Augen hinter der Brille wirkten riesig wie die eines nachtaktiven Tiers. Er hat eine der mit vielen Taschen versehenen Westen an, wie sie von Fotografen und Reportern in Krisengebieten getragen wurden.

      „Matt in vier Zügen also!“, wiederholte Rodney, als wolle er sich sofort an die Arbeit machen.

      „Genau wie diese scheiß Stadt!“, ergänzte Waldo. „Wenn sie nur endlich ein Einsehen hätten und sie ganz abreißen würden! Aber nein, sie meinen ja, es reicht, ein paar Wände zu bemalen und alles wird prima. Erst verschwinden die Fische, dann die Bäume und zuletzt der gesunde Menschenverstand.”

      „Na ja, schlimmer kann ‘s ja nicht mehr werden.”

      „Da sei dir mal nicht zu sicher! Falls es ‘ne Möglichkeit gibt, finden die Knallköpfe von der Handelskammer sie bestimmt.”

      Rodney nickte und betrachtete die weißen und schwarzen Figuren von allen Seiten.

      „Was passiert, wenn du mit dem Bauern zur Grundlinie marschierst?”

      „Kompliziert! Und dieser scheiß Läufer ist immer im Weg.”

      „Was willst du, Süßer?”, fragte Gladys, die Haut und Haar mit dem gleichen Mittel zu färben schien, denn beides war in fahlem Gelb gehalten. „Deine Ruhe und ein bisschen lauwarme Koffein-Brühe?” Sie machte sich keinerlei Illusionen hinsichtlich dessen, was das Sea Mist Cafe zu bieten hatte. Wäre der Besitzer nicht auf die Idee mit dem integrierten Waschsalon verfallen, hätte das Café längst schließen müssen. Es verfügte über keine Alkohol-Lizenz; und die Alten, die sich hier früher getroffen hatten, dämmerten jetzt in einem Seniorenheim außerhalb der Stadt vor sich hin, von dem aus sie es zu Fuß nicht in die Stadt schafften.

      „Gladys, du kennst meine geheimsten Wünsche.” Rodney schaute mit treuherzigem Augenaufschlag zu ihr hoch.

      „Den einen halbwegs zivilisierten Mann in dieser Stadt wird man ja wohl noch ein bisschen verwöhnen dürfen.”

      „Gehst du da nicht ein bisschen zu weit?”, fragte Waldo, der immer noch nicht aufgeblickt hatte.

      „Du bist ein Fanatiker wie die anderen: nur darauf aus, zu zerstören.” Sie wartete kurz, um zu sehen, ob er sie einer Reaktion würdigen würde, wurde enttäuscht und ging auf ihren Pantoffeln zu einem Beistelltisch, auf dem eine große Kaffeemaschine und mehrere Thermoskannen standen.

      „Was meint sie damit?”, fragte Rodney, kaum war sie außer Hörweite.

      „Vermutlich die Warze, die Marges Auto entstellt hat! Sie ist sauer wegen meines korrigierenden Eingriffs.”

      „Sie ist wirklich sehr nachtragend. Ich meine, sie weiß doch, dass du Veteran bist und so.”

      „Das ist ihr egal. Und warum auch nicht? Sie sieht sie ja nicht vor sich, die Toten.” Waldo hob endlich den Kopf, wandte ihn einem der Fenster zu und schaute kurz auf den grauen, nebelverhangenen Hafen. Das Tuckern eines Schiffsdiesels war zu hören und das Japsen eines der Seehunde, die sich manchmal, wenn das Wetter sie unsichtbar machte, auf die Mole setzten. Dann blickte er Rodney an. „Hill 232! Keine Ahnung, warum wir da unbedingt hoch mussten! Irgendwas Strategisches vermutlich! Aber wir haben ‘s geschafft! Wir waren oben. Für ungefähr zwanzig Minuten! Dann waren sie plötzlich überall. Wir mussten auf dem gleichen Weg zurück, den wir uns hoch gekämpft hatten; und die einzige Deckung, die ‘s gab, waren die verdammten Granattrichter und die Leichen der Jungs, die es auf ‘m Hinweg erwischt hatte. Wir sind von Loch zu Loch gesprungen, von Leiche zu Leiche, und wenn du Glück hattest, lagen zwei übereinander. Teile von ihnen! Von 150 Mann sind 17 davongekommen.” Er zuckte mit den Schultern.

      „Du meine Güte! Ich wusste bis vor Kurzem nicht einmal, dass wir dort waren. In Korea, meine ich.”

      „War ein richtiger Krieg; und ich hab’ nicht das Gefühl, als hätten wir ihn gewonnen. Oder als würde sich überhaupt noch irgendwer außer mir daran erinnern; und ich sag dir, auch mir wäre es lieber, ich täte es nicht.” Waldo zuckte mit den Schultern und kehrte zu seinem

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