Treffpunkt Hexeneiche. Claus Karst
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„Folgen Sie mir, bitte, in die Bibliothek, mein Herr!“, forderte er den Kommissar auf.
Dort, in einem Raum mit schweren Holzregalen vor den Wänden, dicken Perserteppichen auf dem Boden und einem Hauch von Pfeifen- oder Zigarrentabak in der Luft, wies er auf einen Ohrensessel aus Leder, bat Platz zu nehmen und erkundigte sich, ob er etwas zu trinken anbieten dürfe. Der Kommissar bat um ein Glas Wasser und die Erlaubnis, einen Blick auf die Bücher werfen zu dürfen, was der Butler gnädigst gestattete, bevor er sich diskret und lautlos zurückzog.
Cernik ließ seine Augen über die prachtvollen Folianten schweifen und fragte sich, ob wohl schon je jemand in einem dieser Bücher geschmökert, geschweige denn gelesen habe, als er hinter sich ein Geräusch wahrnahm, eher fühlte. Er wandte sich um, und sein Blick fiel auf eine schlanke Frau, Mitte fünfzig, die abwartend an einem weiteren Ledersessel gelehnt stand. Die Dame des Hauses, Helene von Saersbeck augenscheinlich. Ihre elegante Kleidung, ein dunkelgrau gestreifter Hosenanzug mit einem schwarzen Kaschmir-Pullover unter der geöffneten Jacke, ließ Geschmack, aber kaum ihren Reichtum erahnen, zumal sie keinen Schmuck angelegt hatte. Große dunkelbraune Augen beherrschten ihr klassisches, dezent geschminktes Gesicht, das von kurz geschnittenen, wahrscheinlich eingefärbten braunen Haaren eingerahmt war. Sie musterte ihr Gegenüber mit jener Selbstsicherheit und Distanz, die ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprachen, bevor sie ihn ansprach.
„Herr Kommissar, Sie wünschen mich zu sprechen?“
„Ich darf mich vorstellen, gnädige Frau: Hauptkommissar Leo Cernik. Ich habe den Auftrag, den rätselhaften Fund einer Leiche oberhalb Ihres Anwesens im Stadtwald aufzuklären, der Ihnen vielleicht bereits zu Ohren gekommen ist.“
„Müsste das der Fall sein? Mich interessiert das Gerede der Leute nicht“, unterbrach sie.
„Pardon, gnädige Frau, so war das nicht gemeint“, entschuldigte sich Cernik. „Aber …“
„Ja, Herr Kommissar?“
„Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der aufgefundene Tote zu Ihrer Familie gehört. Es handelt sich um … Ihren Mann.“
„Mein Mann?“, wiederholte sie, ohne eine Regung zu zeigen. „Wie kommen Sie darauf, wer behauptet das?“
„Wir haben seinen Fahrer befragt. Er hat ihn identifiziert. Es scheint demnach kein Zweifel zu bestehen.“
Frau von Saersbeck nahm in dem Sessel Platz, verhielt ein paar Augenblicke und wies einladend und gefasst auf den Sessel ihr gegenüber. Cernik setzte sich ebenfalls. Sie schlug die Beine übereinander und sah Cernik schweigend an. Keineswegs erweckte sie den Eindruck, überrascht zu sein.
„Gnädige Frau, wenn ich das anmerken darf, ich finde Ihre Selbstbeherrschung bemerkenswert, fast schon verdächtig. Wussten Sie schon Bescheid oder haben Sie Grund gehabt, mit dem Tode Ihres Mannes zu rechnen? Litt er unter Depressionen? Oder ist er bedroht worden? Hat es vielleicht anonyme Anrufe gegeben? Wenn ich mich nicht völlig in meiner Einschätzung täusche, kann ich nicht ausschließen, dass er Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist. Jedenfalls scheint es mir unwahrscheinlich, dass Ihr Mann bei seinem Tod ohne Begleitung war, womit ein Suizid in meinen Augen ausscheidet. Aber ich bin erst am Beginn meiner Ermittlungen. Ich möchte ohne Vorurteile vorgehen und alle denkbaren Optionen in Erwägung ziehen.“
Es dauerte eine Weile, bevor sie antwortete: „Wissen Sie, Herr Hauptkommissar, in unseren Kreisen zeigt man nach außen keine Gefühle, wenn Fremde anwesend sind. Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft: Mir ist im Laufe meines Lebens klar geworden, dass ich meinen Mann nicht wirklich gekannt habe. Ich weiß nicht viel über seine Aktivitäten, hatte aber in den letzten Wochen ein ungutes Gefühl, dass ihn irgendetwas stark beschäftigte – bedrückte würde seine Stimmung wohl präziser zum Ausdruck bringen.“
„Haben Sie ihn darauf angesprochen?“
„Nein, er hätte mir eine Antwort eh verweigert.“
„Hatte Ihr Mann unter den Bediensteten oder Mitarbeitern einen Vertrauten, der ihm vielleicht bei einer Selbsttötung, was immer der Grund dafür hätte sein mögen – vielleicht eine unheilbare Krankheit –, die Gefälligkeit einer Begleitung erwiesen hätte?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Er war von Natur aus ausgesprochen misstrauisch und nur wenig zugänglich. Ich denke, dass er mir gegenüber eine Erkrankung zumindest erwähnt hätte.“
„Können Sie seine Bedrückung, wie Sie es nannten, an einem Zeitpunkt oder einem bestimmten Ereignis festmachen?“
„Darüber müsste ich nachdenken …“
Sie brach ab, versank in Gedanken.
„Nun, es gibt da ein Datum. Das kann aber ebenso reiner Zufall sein.“
„Ja?“
„Mir scheint auf dem Schulfest des Schiller-Gymnasiums möglicherweise etwas vorgefallen zu sein.“
„Ein Schulfest? Was haben Sie damit zu tun? Sind Sie oder Ihr Mann dort zur Schule gegangen – oder Ihre Kinder?“
„Nein, ich bin in Argentinien aufgewachsen, und Kinder hat mir das Schicksal leider keine geschenkt. Was wir dort zu tun hatten? Das ehemalige Jungengymnasium hatte endlich, der Zeit gemäß, die Co-Edukation eingeführt und arbeitet seit einem halben Jahr außerdem eng mit der Kunsthochschule zusammen, wo ich als Kuratoriumsmitglied des Fördervereins ein paar Aufgaben innehabe. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten hatte mein Mann sich – sehr zu meiner Überraschung – bereit erklärt, ein Referat über das Mäzenatentum in der Kunstszene zu halten, das im Übrigen auf große Beachtung stieß. Während der Veranstaltung habe ich ihn wegen meiner Pflichten die meiste Zeit aus den Augen verloren. Auf der Rückfahrt war er ungewöhnlich einsilbig, noch einsilbiger als sonst, wobei ich mir jedoch nicht viel gedacht habe. Seine Schweigsamkeit musste ja nicht zwangsläufig mit dem Schulfest zu tun haben, war dennoch aber auffällig, zumal er sich auf der Hinfahrt völlig anders, ungewöhnlich locker gegeben hatte. Wenn er sich über etwas Gedanken machte, zog er sich meistens völlig in sich zurück, wie eine Schnecke in ihr Haus. Ich habe ihn dann immer in Ruhe gelassen, da ich wusste, dass er sich mir nicht anvertrauen würde.“
„Welche Verbindung haben Sie denn zu der Kunsthochschule, wenn ich fragen darf? Reines Mäzenatentum?“
„Nein, nicht nur, aber das auch. Nach meinem Abitur habe ich Musik und später Kunstgeschichte studiert, habe sogar einige Jahre im Sinfonieorchester von Buenos Aires Cello gespielt, mich allerdings nach meiner Heirat aus dem Musikgeschäft zurückgezogen. Die Kunst liegt mir aber nach wie vor am Herzen.“
„Die Frage, ob Ihre Ehe glücklich war, erübrigt sich wohl?“
„Eigentlich geht Sie das nichts an und hat auch sicher nichts mit dem Tod meines Mannes zu tun. Unter diesen Umständen will ich aber darauf antworten, damit Sie keine Veranlassung sehen, überall herumzustochern und Gesellschaftsklatsch anzufachen …“
Frau von Saersbeck ließ eine Pause entstehen, in der offenbar einige Szenen ihrer Ehe vor ihrem inneren Auge abliefen. Cernik wartete geduldig, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden. Sein Jagdinstinkt war erwacht, er versuchte in den Reaktionen seiner Gesprächspartnerin zu erkennen, was ihre Antworten ihm