DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN. Michael Stuhr

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DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN - Michael Stuhr

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Jungen hatte fürchten müssen. Waman hatte indianische Wurzeln, und so war es für ihn nicht ungewöhnlich gewesen, in dieser Situation zu einem Schamanen zu gehen – und der beste Schamane von ganz Lima war nun mal Otoronco, Annas Freund.

      Otoronco hatte dem Jungen helfen können. Die Anfälle waren seltener geworden und schließlich ganz abgeklungen. Von da an war es gewesen, als wenn Otoronco und Anna ihre eigenen Bodyguards gehabt hätten. Während andere Bürger von Miraflores sich duckten und in Hauseingängen verschwanden, wenn Waman und seine Gang auftauchten, hätten Otoronco und Anna ihr ganzes Geld um Mitternacht am Strand spazieren tragen können, was man dem Normalbürger nun wirklich nicht empfehlen konnte. Es war in Annas Zeit in Lima kaum eine Woche vergangen, ohne dass man irgendwo die ausgeraubte Leiche eines leichtsinnigen Touristen gefunden hätte, und sehr oft hatten die Bellacos mit zu den Hauptverdächtigen gehört. Das hatte Otoronco aber nicht davon abgehalten, Wamans Sohn zu helfen, und Wamans Dankbarkeit kannte keine Grenzen.- Trotzdem: Wie kam er hierher?

      Vier weitere Maschinen kamen die Betonrampe herab. Alle Fahrer waren ohne Helm unterwegs und verbargen ihre Augen hinter den typischen halbrunden Sonnenbrillen. Trotzdem erkannte Anna sofort, dass es Indios waren. Es waren die Bellacos, da gab es überhaupt keinen Zweifel.

      Das Getöse der offenen Auspuffanlagen hallte von der niedrigen Betondecke zurück. Anna sah, dass Kevin eine unbeholfene Fluchtbewegung machte. Am liebsten wäre er wohl in den Wagen gestiegen und ganz schnell von hier verschwunden, aber Anna passte auf: Nur eine einzige falsche Bewegung, und sie würde ihn wieder in den Spalt zwischen Tür und Holm einklemmen – und diesmal würde etwas brechen!

      Waman stoppte seine Maschine, klappte den Seitenständer runter und stieg ab. Seine Begleiter hielten ein paar Mannslängen Abstand und blieben auf ihren Maschinen sitzen. Was immer sie auch planten: Sie trauten es ihrem Boss zu, dass er allein damit fertig wurde.

      „Buenos Dias, Waman“, grüßte Anna den Anführer der Gang, aber der reagierte nicht darauf. Er schien sie nicht einmal wahrzunehmen. Mit langsamen Schritten ging er auf Kevin zu, der stark hinkend Schritt für Schritt vor ihm zurückwich. „Was – was wollt ihr von mir?“, stieß er dabei hastig hervor. „Ich – ich habe nichts gemacht!“

      In Wamans Hand pendelte eine gut halbmeterlange Motorradkette, die etwa so dick wie ein Männerdaumen war. Die Kanten der schweren Kette blitzten verräterisch. – Sie waren mit Sicherheit messerscharf geschliffen.

      „Warte mal! Warte mal! – Jetzt warte doch mal!“ Kevin war immer weiter zurückgewichen und stand nun mit bittend erhobenen Händen mitten auf der Fahrspur. Seine Stimme war schrill vor Angst. Plötzlich warf er sich herum und versuchte mit unbeholfenen Sprüngen in Richtung Treppenhaus zu fliehen.

      Einer der Bellacos machte eine schnelle Bewegung und keine Sekunde später war Kevins Flucht zu Ende. Die Leinen der Bola hatten sich fest um seine Beine gewickelt und er war hart auf den Betonboden gestürzt. Schon war Waman über ihm und ließ die schwere Kette mit aller Macht auf ihn herabsausen.

      Die ersten Angriffe versuchte Kevin noch abzuwehren, aber schon nach wenigen Treffern ließ er die zerschlagenen Hände sinken und wartete mit fest zusammengekniffenen Augen auf den letzten, den tödlichen Schlag.

      So leicht wollte es Waman ihm aber nicht machen. Er ließ sich von einem seiner Leute ein Lasso zuwerfen, das er mit schnellen, geübten Griffen fest um Kevins Knöchel schlang. Das andere Ende befestigte er in aller Ruhe am Rahmen seiner Honda, während Kevin panisch versuchte, die Schlinge wieder zu lösen, aber es war hoffnungslos. Kaum ein Finger war noch zu gebrauchen. Er musste entsetzliche Schmerzen haben. Fast hätte er Anna Leid getan, aber da tauchte wieder das Bild vor ihr auf, wie er nach Intis Hand gegriffen hatte.

      Waman war fertig und bestieg seine Maschine. Er wandte sich Anna zu, die die Szene mit einem kalten Lächeln beobachtete. „Es solamente uno sueño“, sagte er nur.

      Das hier? Nur ein Traum? Oh nein! Das wusste Anna besser.

      Ohne sie weiter zu beachten nickte Waman seinen Leuten zu. „Ya está!“, ließ er sie wissen und gab auch schon Gas.

      Ja, das war´s! – Zumindest für Kevin. Anna nickte. Den Fehler hätte er niemals machen dürfen, Otoroncos Sohn anzugreifen, und sie konnte nichts mehr für ihn tun, außer ihm einen schnellen Tod zu wünschen.

      Fünf schwere Motoren brüllten auf. Wamans Maschine schoss als erste los. Das Seil spannte sich schlagartig und Kevin wurde mitgerissen. Mit hoher Geschwindigkeit schoss die Maschine davon und die Rampe zum Parkdeck sechs empor. Die anderen Fahrer folgten mit einigem Abstand, vor sich den verzweifelten Kevin, der sich mit letzter Kraft von einer Seite auf die andere warf, um vielleicht doch noch die Schlinge abzuschütteln.

      Wenige Sekunden später war der Spuk vorbei. Ein greller Blitz drang die Rampe von P6 herunter und schlagartig war es wieder totenstill. Zwei Leuchtstoffröhren begannen zu flackern und explodierten in ihren Fassungen. Anna ging schnell einen Schritt zur Seite, um nicht von den Splittern erwischt zu werden.

      Es war vorbei! Langsam ging Anna auf den Wagen zu. Inti sah ihr erwartungsvoll zu, als sie sich über den Rücksitz beugte und das Klappmesser von der hinteren Ablage nahm. „Fahren wir jetzt zur Oma?“

      Anna sah auf die Uhr. Es waren nur zwanzig Minuten vergangen, seit Kevin sie in den Wagen gedrängt hatte. „Ja Schatz! Bestimmt hat sie das Essen schon fertig.“ Sie strich ihrem Sohn kurz über die Haare.

      „Was gibt es denn heute?“

      „Weiß ich nicht – aber bestimmt was Gutes. Oma kocht doch immer was Gutes, stimmt´s? – Du, sag mal ...“

      „Ja?“

      „Hast du die Männer gerufen?“

      „Ich habe von Papa geträumt“, gab Inti zurück. „Es solamente uno sueño.“

      Inti sprach kein Spanisch. Anna nickte. „Ja, Schatz, es war nur ein Traum!“ Sie setzte sich hinter das Lenkrad. Die leicht verbogene Fahrertür schloss erst beim zweiten Mal, als sie sie mit viel Kraft ins Schloss knallte. Sie startete den Wagen und fuhr los. Den Herrenschuh, der auf der Rampe im Dreck lag, beachtete Anna nicht. Der gehörte auch zu einem Traum. Zu einem bösartigen Traum, der jetzt für immer vorbei war.

      DER VIADUKT

      Seltsam, in eine Stadt zu kommen, in der man noch niemals war, die einem aber trotzdem merkwürdig bekannt vorkommt. Kennen Sie das Gefühl?

      Von hier stammt die väterliche Linie meiner Familie. Ich bin jedoch in einer Kleinstadt, na ja - einem Dorf, einem großen Dorf allerdings, aufgewachsen, das ganz am anderen Ende von Deutschland liegt. Wir hatten in Melling selbst sehr oft Besuch von den Verwandten, und an Einladungen hat es nicht gefehlt. Aber irgendwie hat es sich nie ergeben, sie mal zu besuchen. Sooft die Familie eine Fahrt nach hier plante, ging irgendwas schief. Einmal starb ein enger Geschäftsfreund meines Vaters, einmal wurde Mutter krank, dann wieder brach ich mir am Tag der Abreise einen Arm. - Es war wie verhext! So, als solle keiner von uns diesen Ort jemals erreichen.

      Es war überhaupt nicht schwierig gewesen, in das Viertel zu finden, in dem meine Tante wohnte. Wie oft hatte sie den Weg beschrieben, wenn ich dabei war. Nun fuhr ich also endlich durch die Stadt, die ich schon so lange mal hätte besuchen sollen.

      Langsam ließ ich meinen kleinen Wagen über eine Kreuzung rollen. Amtmann-David-Straße las ich auf einem Schild. - Das war doch Tante Lucys Adresse! Flink drehte ich am Lenkrad und bog ein, ohne mich um das

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