DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN. Michael Stuhr

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DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN - Michael Stuhr

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das Wort in meinen Gedanken. Talbrückenstraße - Viadukt, diese Begriffe waren irgendwie miteinander verkettet!

      Ich wandte mich nach links. Meine Augen hatten sich jetzt vollständig an die Dunkelheit gewöhnt. Auf der Straße war alles ruhig. Hinter einer flachen Buschreihe lag eine helle, ebene Fläche. Wahrscheinlich ein großer Parkplatz. Undeutlich Schimmerte die Silhouette eines abgestellten Kleinbusses durch die Finsternis.

      Undeutlich nahm ich ein leises Rauschen wahr, so wie von schnell fließendem Wasser. Neugierig geworden, ging ich die Einfahrt zum Parkplatz hinunter und überquerte die grau gepflasterte Fläche. Richtig! Schwache Reflexe aus dem wolkenverhangenen Himmel verrieten mir, dass ich vor einem Gewässer stand. Einem See! Ob groß oder klein, das konnte ich nicht feststellen. Das jenseitige Ufer lag jedenfalls in völliger Finsternis.

      Unter mir zischte und brodelte es. Das musste das Rauschen sein, das ich vorhin gehört hatte. Ich stand direkt über einem künstlich angelegten Abfluss. Unaufhörlich strömte das schwarze Wasser in den Betonschacht.

      Ich ging ein Stück am Ufer entlang. Bei Tag musste es hier recht schön sein. Ich stellte mir vor, wie die Städter bei schönem Wetter hier ihre Freizeit verbrachten. Jetzt war es aber entschieden zu dunkel um sich wohl zu fühlen. Schnell ging ich wieder auf die Straße zu. Hoch über mir donnerte ein Güterzug über die neue Brücke. Mühsam kämpfte ich mich durch das Buschwerk; ich war einfach zu bequem gewesen, zur Einfahrt zurückzugehen. Direkt vor mir raschelte etwas auf dem Boden. Eine Ratte vielleicht? Unsicher blieb ich stehen.

      Jetzt war es mir doch etwas unheimlich zumute. Ich hab Ratten nicht so gerne. Ich hab mal eine gesehen, die ist über zwei Meter hoch gesprungen. Laut klatschte ich in die Hände, um das Tier, was immer es auch war, zu verscheuchen, und machte einen großen Schritt nach vorne.

      Plötzlich legte sich eine stählerne Klaue um meinen rechten Knöchel. Erschrocken fuhr ich zurück, stolperte und fiel hin. Schnell erhob ich mich wieder. Es hatte bei meinem Sturz laut geratscht, und ich spürte einen kalten Luftzug an meiner Wade. Tja, die Jeans waren wohl hin.

      Unsicher tastete ich mich einen Schritt weit vorwärts und suchte vorsichtig nach dem Hindernis. Undeutlich sah ich einen dünnen Gegenstand aus der Erde ragen und griff zu, um mich zu stützen. Ich glaube, ich habe vor Entsetzen laut aufgeschrien, spürte ich doch die knöcherne Kälte einer skelettierten Hand, an der verwesendes Fleisch hing, zwischen meinen Fingern! Im selben Moment brach unter meinem rechten Fuß der Boden ein und mit abgeknicktem Knöchel fiel ich laut aufschreiend auf den Rücken.

      Einige schreckliche Sekunden später hatte ich mich wieder einigermaßen in der Gewalt. Noch war kein Knochenmann über mich hergefallen und hatte mir seine dornigen Klauen in den Leib geschlagen. Außerdem tat mein umgeknickter Fuß teuflisch weh. Vorsichtig zog ich ihn zu mir heran. Jetzt konnte ich auch erkennen, was mich eben so erschreckt hatte: Ein Knäuel dünner Eisenstangen ragte aus der Erde. Das verwesende Fleisch, das ich gefühlt hatte, war ein Stück meiner eigenen Jeans gewesen, das wie ein Wimpel daran hing. - Eine hübsche Falle - wirklich!

      Verdrossen rappelte ich mich auf und setzte mich auf ein Mäuerchen, das, halb von Gras überwachsen, schemenhaft vor mir zu erkennen war.

      Leider kam ich nicht umhin, mich selbst eine Idiotin zu nennen. Wer, außer mir dreidämlicher Kuh, käme wohl noch auf die Idee, in stockfinsterer Nacht mitten durch die Botanik zu trampeln, nur um einige Meter Weg zu sparen?

      Es war unglaublich warm geworden. Schweißperlen standen auf meiner Stirn. Die Kleidung klebte mir am Körper. Bestimmt kam das vom Schmerz in meinem Knöchel. Ich öffnete meine Jacke, um kurz etwas mehr Luft an meinen Körper zu lassen.

      Die erhoffte Abkühlung blieb aus. Nur muffige, abgestandene Luft war um mich herum. Leicht konnte ich den Geruch von Heu wahrnehmen. Es roch nach Sommer.

      1944! Plötzlich wurde mir mit einem Schlag klar, wo ich mich befand. Fragmente alter Geschichten, die ich als Kind gehört hatte, vereinigten sich schlagartig zu einem Ganzen: Talbrückenstraße, die Eisenbahnbrücke, Spätsommer 1944! Ich befand mich genau an der Stelle ...

      Schaudernd tastete ich den Untergrund ab. Was ich für ein Mäuerchen gehalten hatte, war Beton. Dicker Beton, mit schwerem Eisen armiert, das jetzt nackt, rostig und verdreht aus der verwitterten Oberfläche hervorragte. Wenn ich statt nach hinten, nach vorne gefallen wäre, in diese wirren Eisenknäuel hinein - nicht auszudenken. Zum erstenmal im Leben war ich direkt dankbar für meinen dicken Hintern, der mich so treulich zu Boden gezogen hatte.

      Ich hatte das Gefühl, in dieser unnatürlich warmen Luft fest zu stecken, und es wurde immer seltsamer:

      Hinter dem nächsten Hügel tauchten Scheinwerfer auf. Ein Wagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf den Ortseingang zu; doch obwohl er keine fünfzig Meter hinter mir vorbeischoss, hörte ich nicht das geringste Geräusch.

      "Heute ist Vollmond, da haben sie es leicht!"

      Ruckartig warf ich den Kopf herum. Direkt hinter mir hatte jemand gesprochen. Ein schabendes, knirschendes Geräusch, so als ziehe jemand eine schwere Kiste über glatten Beton, ließ mich zur anderen Seite blicken.

      "Vorsicht mit der Kiste!“, schimpfte ein Mann. "Wenn du abrutscht haben wir dienstfrei - für immer."

      "Schon gut, schon gut“, maulte eine andere Stimme zurück.

      Ganz deutlich konnte ich diese Worte verstehen. Über mir, neben mir, hinter mir. - Aber da war niemand. Mutterseelenallein saß ich auf dem uralten Betonfundament und fing ganz offensichtlich an zu spinnen.

      Leise quäkte ein Funkgerät. Eine Stimme gab die Nachricht: "Erste Welle, drei Minuten!"

      Nichts wie weg hier! Hastig versuchte ich aufzustehen. Umsonst! - Es war mir, als stecke ich in einer Mauer. Nicht, dass ich wie gelähmt gewesen wäre. Aber all meine Bewegungen liefen so langsam, so mühsam ab, als sei ich unter Wasser. Es wollte mir einfach nicht gelingen, auf die Füße zu kommen.

      Langsam, fast unmerklich, erfüllte ein leises Summen mehr und mehr die Luft.

      "Sie kommen!“, kommentierte eine Stimme hinter mir.

      Ich schwitzte. Schwitzte vor Schmerz, vor Anstrengung und vor Aufregung - und ich schwitzte vor Wärme. Es war unglaublich warm. Der Duft von Heu hatte sich noch verstärkt. Wie ein Vogel im Netz drehte und wand ich mich auf meinem Platz hin und her, versuchte aufzuspringen und kam doch nicht frei. Es war, als hielte mich eine große, warme Hand niedergedrückt.

      Das Summen hatte sich nun zu einem Dröhnen verstärkt. Das Geräusch kannte ich aus alten Wochenschaufilmen, die wir mal in der Schule gesehen hatten: Bomberstaffel im Anflug! - Und wieder hat unsere tapfere Flugabwehr ...

      "Sie sind über der Stadt."

      Fernes Grollen zeigte an, dass die ersten Bomben detonierten.

      "Hoffentlich sind die Frauen im Keller."

      "Halt doch den Mund!"

      "Und die Kinder."

      Schwere Erschütterungen jagten durch die Luft. Die ganze Stadt schien zu vibrieren. Fassungslos saß ich auf meinem Platz und erlebte mit, wie die Detonationen immer näher kamen.

      Plötzlich übertönte eine Kette scharf knallender Schüsse alle anderen Geräusche. Unwillkürlich schaute ich in die Richtung, hoch zur Brücke.

      "Kammerer macht wieder Extraschicht. Der

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