DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN. Michael Stuhr

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN - Michael Stuhr страница 5

Автор:
Серия:
Издательство:
DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN - Michael Stuhr

Скачать книгу

stieß, aber dann war ich auch schon vor der Hausnummer elf. Ja, hier war es! Dieses Haus hätte ich unter Tausenden erkannt. Auf den Fotos, die bei Familienfesten immer herumgezeigt wurden, war es ein paar Mal mit abgebildet gewesen. Das sollte für die Zeit meines Praktikums also mein Zuhause sein. Gewaltig sah es aus. Ein wenig düster vielleicht. Aber was will man von einer Großstadt-Mietskaserne in der City schon erwarten?

      Nachdem ich vor dem Haus Nummer 76 einen Parkplatz gefunden hatte, nahm ich meine kleine Reisetasche aus dem Kofferraum und machte mich auf den Weg. Die großen Gepäckstücke konnte ja nachher Jochen aus dem Wagen holen. Jochen ist sehr kräftig, wissen Sie, und wenn ich ihn nett um etwas bitte, kann er mir einfach nichts abschlagen.

      "Ha, da ist ja unser Landei!" Schwungvoll hatte Jochen die Tür geöffnet und zog mich jetzt am Henkel meiner Reisetasche in die Wohnung. Jochen ist mein Vetter. Er war früher, als Kind, oftmals in den Ferien bei uns auf dem Dorf gewesen. Wenn ich ihn ärgern wollte, hatte ich ihn immer meinen `fetten Vetter' genannt; dabei war er gar nicht so dick. - Aber damals hat es ihn fast umgebracht. Aus Rache hat er sich dann die Bezeichnung `Landei' für mich ausgedacht, die mich jedesmal in wilden Zorn versetzte. Heute stand ich natürlich weit über solchen Kindereien.

      "He, Mutti, Landei ist da!“, brüllte Jochen in den dunklen Flur hinein.

      Jetzt war es doch allerdings wohl an der Zeit, mit dem blöden Landei-Geschwafel aufzuhören. Ich finde, dass auch junge Menschen durchaus vernünftig miteinander reden können; aber da fehlt meinem fetten Vetter wohl noch einiges an Reife. Er ist allerdings auch erst siebzehn. Ein ganzes Jahr jünger als ich.

      Jochens Mutter saß in der Küche. "Hallo Gisela!" Lächelnd erhob sie sich.

      Na, bravo! Erst Landei, und dann auch noch Gisela. - Wenn ich auf der Welt einen Namen hasse, dann Gisela. Mit einem coolen Lächeln reichte ich Jochens Mutter die Hand und tat so, als müsse ich mich vorstellen. "Landei!“, nannte ich meinen Namen. "Gisela Landei! Meine Freunde nennen mich allerdings Gisi."

      "Was hast du denn?" Forschend sah Jochens Mutter mich an. "Hast du unterwegs was Schlimmes erlebt?"

      "Unterwegs nicht", antwortete ich vieldeutig, und versuchte, möglichst frech auszusehen.

      "He, Landei, du hast ja schon richtig Busen!" Jochens gute Laune war nicht zu übersehen und erst recht nicht zu überhören. Ich merkte, wie mir das Blut in die Wangen schoss.

      "Immer noch wie Katz und Hund!" Die Stimme meiner Tante klang eher belustigt als streng. Das machte es auch nicht besser.

      "Mach dir nichts draus." Jochen beugte sich vertraulich zu mir. "Brauchst nicht rot zu werden. Du weißt es vielleicht nicht. - Aber sowas haben alle Frauen. - Sogar größer!"

      Wenn jemals eine Frau einen Mann töten wollte, dann ich ihn, auf der Stelle! "Doofmann!", konterte ich schlagfertig.

      "Jochen, hör jetzt auf!" Die Stimme meiner Tante klang jetzt aber wirklich böse. "Deck lieber den Tisch! Gisela wird hungrig sein, nach der langen Fahrt."

      Blöde grinsend kam Jochen der Aufforderung nach. - Hatte ich da eben etwa ein leises "Muuh" gehört, als er sich zum Schrank hin umdrehte?

      Nach dem Essen, ich hasse Graupen, sprach meine Tante mich an: "Na, was hast du heute vor? Willst du das Wochenende nutzen, und dir die Stadt ein wenig ansehen? Schließlich wirst du in den nächsten Wochen hier leben. Da wäre es ganz gut, wenn du dich schon mal ein bisschen umsiehst."

      "Genau!" Das entprach ganz meiner Planung. Zuächst würde Jochen meine Koffer herauftragen, und dann könnte er mir die Stadt zeigen. "Zuerst müssen wir mal meine Koffer ...", begann ich.

      "So, ich muss dann los!" Jochen stand auf. "Wenn ich zu spät komme, wird der Platz sofort wieder vergeben." Er schaute auf seine Armbanduhr.

      "... nach oben holen“, schloss ich lahm.

      "Ja, beeil dich", riet meine Tante ihrem Sohn. "Sonst verpasst du noch deine Bahn."

      Meinen Kofferkuli konnte ich wohl vergessen. Eilig stürzte er aus der Küche, schlüpfte in seine Jacke, raffte im Flur eine blau-weiße Tennistasche an sich und verschwand mit Getöse durch die Wohnungstür. "Tschüß, Leute!“, rief er noch über die Schulter zurück. "Wir sehen uns morgen!"

      "Kommt er heute nicht wieder?“, fragte ich vorsichtig bei meiner Tante an.

      "Keine Ahnung. Wenn er sagt `bis morgen', dann meint er wohl auch `bis morgen', denke ich."

      "Ich hol dann meine Koffer." Niedergeschlagen stand ich auf. Das fing ja gut an.

      "Okay“, meinte meine Tante fröhlich. "Hast du viel Gepäck? Kannst du Hilfe gebrauchen?"

      Ich nickte.

      "Dann komme ich mit und helfe dir."

      Der erste Lichtblick in diesem dunklen Tal.

      Zwei Stunden später ging ich, dick in meinen Wintermantel eingepackt, die Amtmann-David-Straße hinunter. Tante Lucy war wirklich reizend gewesen. Zuerst hatten wir gemeinsam meine Koffer nach oben geschleppt, und dann hatte sie mir noch beim Einräumen geholfen. Mein Zimmer gefiel mir. Es war zwar klein, aber gemütlich eingerichtet. Einzig die Aussicht ließ etwas zu wünschen übrig. Knapp zwanzig Meter entfernt ragte auf der anderen Straßenseite ein riesiges, altes Bürohaus auf. Jetzt, am Sonnabendnachmittag, waren alle Räume dunkel. Trist starrten die schwarzen Fenster in dem grauen Beton vor sich hin. - Wie ein riesiger Totenschädel mit tausend Augen. Schnell hatte ich die Vorhänge zugezogen.

      Als wir mit dem Einräumen fertig waren, hatten wir noch gemeinsam Tee getrunken, und ich musste von zu Hause erzählen. Danach hatte meine Tante mir neben einem Stadtplan noch eine Menge guter Ratschläge mit auf den Weg gegeben. Tenor der ganzen Litanei war, Komm rechtzeitig heim und lauf nicht allein in der Dunkelheit herum! gewesen. Ich fand, für eine Frau, die noch nicht einmal wusste, wo ihr minderjähriger Sohn sich nachts herumtrieb, machte sie sich reichlich viel Mühe mich zu gängeln.

      Kreuz und quer ging ich durch die Straßen der Stadt, wie es mir gerade in den Sinn kam. Ich bin schon immer gern zu Fuß gegangen und hier gab es wirklich eine Menge zu sehen. Zuerst ging ich zu der Firma, bei der ich mein Praktikum absolvieren würde. Na, das sah doch gut aus! `HANSEN-EDV' stand in großen Buchstaben über dem gewaltigen Backsteinbau mitten in der City. Hier sollte ich also meine ersten Kontakte zur Welt der Arbeit knüpfen. Nun, man würde sehen. Jedenfalls behagte mir die Citylage sehr. Bestimmt konnte man in der Mittagspause immer mal eben einen kleinen Einkaufsbummel machen.

      Weiter ging es durch die Innenstadt, die jetzt, nach Feierabend, wie ausgestorben dalag. Aber die Schaufenster in der Fußgängerzone waren schon interessant. Ich nahm mir vor, mir gleich am Montag ein paar schicke Sachen zu kaufen. Zwar waren auch wir in `Hinterwald', wie Jochen unser Dörfchen nennt, modisch voll auf dem Laufenden. Ich wollte aber kein Risiko eingehen. Es reichte vollauf, wenn ich zu Hause Landei genannt wurde.

      "He, Mädchen!" Auf einer Bank, neben einem Blumenkübel mit kümmerlichen Pflanzen darin, saß ein alter Mann.

      Unsicher schaute ich mich um. Meinte der etwa mich?

      "Komm mal! - Komm doch mal!" Er gab mir Zeichen. Eindeutig!

      Langsam näherte ich mich der Bank und blieb einige Schritte davor stehen. Der Alte trug eine ehemals weiße Windjacke, die vor Schmutz nur so starrte. Darunter war ein fleckiges Hemd zu erkennen. Neben ihm lag eine Plastiktüte,

Скачать книгу