Finisterre. Claus Karst
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Leonie küsste ihren Vater noch einmal, überaus innig sogar, dann ihre Mutter. Auch Pascal verabschiedete sich von seinen Schwiegereltern mit einem Kuss. Schließlich stiegen sie ein und winkten, bis sie hinter der nächsten Straßenkreuzung abgebogen waren.
„Findest du diese plötzliche Idee nicht etwas merkwürdig, Lieber?“, fragte Leni Markgraf ihren Mann, als sie zurück ins Haus gingen. „Leonie erzählt dir doch sonst immer alles. Baut sie neuerdings zu dir dieselbe Distanz auf wie zu mir?“
Johann Markgraf ließ die Frage unbeantwortet im Raum schweben. In der Tat war es das erste Mal, dass Leonie ihn nicht in ihre Pläne eingeweiht hatte. Sie wird es schlichtweg vergessen haben, hakte er das Thema für sich ab.
Im Wagen fragte Pascal, nachdem sie auf die Autobahn aufgefahren waren: „Welches Hotel hast du für heute Abend gebucht, Liebes?“
„Wo wir schon einmal übernachtet haben. Erinnerst du dich?“
„Oh ja, das war eine wunderschöne Nacht, falls mich meine Erinnerung nicht im Stich lässt.“
„Ja.“ Leonie sah aus dem Fenster. „Damals konnten wir uns einmal Zeit füreinander nehmen.“
„Das werden wir auch dieses Mal“, versicherte Pascal. „Hier und heute fangen wir damit an. Versprochen! Jedenfalls will ich nicht der Hemmschuh sein.“
„Hier?“, Leonie lachte. „Dann halt auf dem nächsten Rastplatz an!“
„Auf der Autobahn?“ Pascal sah spitzbübisch feixend zu ihr hinüber.
„Parkplatzsex soll en vogue sein, habe ich gelesen.“ Leonie grinste verschmitzt.
„Was du alles so liest …“
Dabei ließ Pascal es bewenden. Sie einigten sich darauf, bis zum Hotel zu warten. Er steuerte den Wagen ohne Hast südwärts.
Während der Fahrt riss ihre Unterhaltung immer mehr ab, Pascal konzentrierte sich auf den Verkehr, Leonie duselte ein wenig ein. An einer Raststätte legten sie einen Zwischenstopp ein, um sich die Beine zu vertreten und einen Imbiss einzunehmen.
Am späten Nachmittag erreichten sie die Unterkunft, die Leonie ausgewählt hatte: ein bekanntes Fünfsternehotel, in dem allerlei Prominente und solche, die sich dafür hielten, nächtigten und sich verwöhnen ließen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Leonie. „Sicher möchtest du dich ein wenig ausruhen, nachdem du mich so wunderbar hierher kutschierst hast. Ich glaube, ich habe unterwegs sogar geschlafen.“
„Ich möchte am liebsten nur meine Beine ein bisschen ausstrecken, das habe ich mir doch wohl verdient?“
Leonie küsste ihn. Sie entledigten sich ihrer Oberbekleidung und legten sich auf ihre Betten. Pascal döste sofort ein. Leonie nahm eine Illustrierte zur Hand, gab aber vorsichtshalber eine Weckzeit in ihr Handy ein. Sie wollte sich ohne Hast schön machen für den Opernabend, für Pascal, auch für sich. Trotz ihrer angeborenen Zurückhaltung genoss sie die Blicke, die Männer ihr zuwarfen.
Leonie erschrak, als sich ihr Handy schrill meldete, denn sie war in einen Halbschlaf gefallen. Die Illustrierte lag auf dem Boden neben dem Bett.
Sie streckte sich, warf einen Blick auf Pascal, der friedlich schlummerte, und begab sich ins Bad. Dort ließ sie sich in der komfortabel ausgestatteten Dusche von deren Düsen von oben und allen Seiten bestrahlten. Das warme Wasser sprudelte sanft über ihre Haut, eine Labsal nach der Autofahrt. Sie schäumte sich genüsslich mit einem sündhaft teuren Duschgel ein, das sie vor der Abfahrt noch in einer Parfümerie erstanden hatte, das ihre Haut mit einem sommerfrischen Duft versah.
Noch länger hätte sie verweilen mögen, doch ein Blick auf die Uhr, die in der Kabine an der Wand hing, erinnerte sie daran, dass sie mit ihren Abendvorbereitungen noch lange nicht fertig war. Außerdem musste sich Pascal auch noch frisch machen.
Sie stellte sich vor den großen Spiegel und föhnte ihr schulterlanges rotblondes Haar. Danach legte sie dezent Schminke auf und parfümierte sich. Ein letzter Blick in den Spiegel: Sie nickte ihrem Spiegelbild zu. Ihr sportlich durchtrainierter Körper, mit Brüsten, nicht zu groß, nicht zu klein, ähnelte dem harmonischen Bild einer klassischen Statue. „Du kannst dich sehen lassen, Leonie Lambert“, bescheinigte sie zufrieden ihrem Spiegelbild. Sie verließ das Bad, um es Pascal zu überlassen.
Als sie den Schlafraum betrat und er sie in ihrer verlockenden Nacktheit erblickte, konnte er nicht anders, als nach ihr zu greifen. Sie entwand sich ihm jedoch und machte ihn auf die fortgeschrittene Uhrzeit aufmerksam. Widerstrebend knurrte Pascal: „Beschwere dich nachher nicht, dass ich dich vernachlässige!“
Lachend gab sie zurück: „Wer hat denn vorgezogen, eine Stunde zu schlafen? Ich hätte schon Lust gehabt … Nun beeil dich ein bisschen, sonst gehe ich ohne dich in die Oper.“
Sie entnahm dem Koffer ihre hauchzarten Dessous, mit denen sie ihre elfenhafte Sinnlichkeit Geltung verlieh, und streifte sie über. Darüber ein neues, raffiniert geschnittenes Kleid, das sie sich erst neulich zugelegt hatte, lang, schwarz, figurbetont, im Schulterbereich und Dekolleté verführerisch freizügig. Dazu wählte sie ein buntes Seidentuch, um ihre Schultern zu bedecken, und hochhackige Sandaletten. Als Schmuck legte sie eine schlichte Goldkette mit einem Bernsteinherzen an. Eine letzte kritische Begutachtung im Spiegel: perfekt!
Leonie bemerkte erst, dass Pascal bereits eine Weile nackt in der Tür stand und sie bewunderte, als er murmelte: „Umwerfend. Ich bin hin- und hergerissen.“
„Umwerfen kannst du mich später“, wehrte sie ihn ab, als er auf sie zukam. „Vergiss nicht, dass wir in die Oper wollen! Deswegen sind wir doch hier.“
Als auch Pascal endlich angekleidet war, wie immer ohne Krawatte – einen Smoking besaß er nicht einmal, hätte ihn auch niemals getragen –, fragte er grinsend: „Tragen dich diese Schuhe die paar Meter unfallfrei hinüber ins Opernhaus oder soll ich ein Taxi kommen lassen?“
„Blödmann, wenn schon erwarte ich, dass du mich trägst“, entgegnete sie, schnappte nach ihrem Handtäschchen mit den Utensilien, ohne die sie niemals das Haus verließ, und ging los.
Die Temperatur draußen war noch angenehm warm, die meisten Besucher, die auf das Opernhaus zuströmten, waren sommerlich elegant gekleidet.
Als sie sich in den Besucherstrom einreihten, fiel Leonie auf, dass man sie immer wieder verblüfft anstarrte und zu tuscheln begann. Sie dachte sich nichts dabei, hatte sich längst daran gewöhnt, Aufmerksamkeit zu erregen. Als ihr Blick auf das Plakat fiel, das den Fliegenden Holländer ankündigte, fuhr sie zusammen. Sie blieb stehen, ihre Augen konnten sich von dem Aushang nicht lösen. Sie erbleichte.
„Ist dir nicht gut?“, fragte Pascal, dem die plötzliche Veränderung nicht entgangen war.
Leonie reagierte auf seine Frage nicht, schien sie nicht einmal vernommen zu haben, stierte nur auf das Plakat und rührte sich nicht von der Stelle.
„Leonie!“ Er griff nach ihrem Oberarm. „Was ist los mit dir?“
Sie erwachte aus ihrer Starre und setzte sich mit weichen Knien wieder in Bewegung.
„Oh, entschuldige bitte, es ist alles in bester Ordnung. Lass uns unsere Plätze einnehmen. Ich bin sehr auf die Aufführung gespannt.“