Finisterre. Claus Karst
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Das Erscheinen des Dirigenten und die sofort einsetzende Ouvertüre unterbrachen für einen Moment ihr Grübeln, doch es gelang ihr nicht, in die Musik einzutauchen, wie es sonst immer der Fall war. Ihr Kopf war nicht frei, ihr Herz pochte wild. Sie fürchtete gar, dass die Leute, die neben ihr saßen, das Pochen vernehmen konnten.
Als im ersten Akt der Holländer die Bühne betrat und seinen großen Monolog anstimmte, davon sang, dass seine Frist um sei, war es um sie geschehen. Godfree gestaltete den Mann, von dem sie seit Wochen träumte. Er war der Geheimnisvolle, der mit ihr in Verbindung getreten war: die hagere Gestalt, die langen schwarzen Haare, die bis auf seine Schultern reichten, vor allem dieser stechende, hypnotisierende Blick. Unfassbar diese Ähnlichkeit!
Wie konnte dieser Sänger in ihre Träume gelangt sein, obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hatte, nicht einmal auf einem Foto? Oder war er ein Zwilling ihrer Traumerscheinung? „Die Frist ist um“, hatte er bei seinem Auftritt gesungen. War es nur die Rolle, die er zu verkörpern hatte, oder war sie gemeint, war sie angesprochen, galt die Botschaft ihr? Oder war alles nur das Trugbild eines verwirrten Geistes, ihres Geistes? Befand sie sich auf dem Weg, verrückt zu werden? Nahmen Dämonen von ihr Besitz? Dazu ihre verblüffende Ähnlichkeit mit der Senta auf der Bühne.
Kalte und heiße Schauder liefen abwechselnd ihren Rücken hinunter. Als der erste Akt beendet war und die Lichter aufleuchteten, kam es ihr vor, als wäre sie gerade aus einem Albtraum erwacht.
Wie aus weiter Ferne hörte sie Pascals Stimme: „Wollen wir ein Glas Sekt trinken, Liebes?“
„Ja, gerne“, antwortete sie automatisch, „stell dich schon mal an, ich gehe derweil mal für Damen. Du weißt schon.“
Sie musste sich dringend ein wenig frisch machen, aufgewühlt, wie sie sich fühlte. Ihr Gesicht war von den Eindrücken, die auf sie einwirkten, mit einem feinen Schweißfilm überzogen. Auch im Toilettenraum bemerkte sie die heimlichen Blicke, die auf sie gerichtet waren, konnte den Grund inzwischen allerdings nachvollziehen. Als sie wieder ins Foyer hinaustrat, wartete Pascal bereits mit zwei Gläsern in der Hand auf sie. Sie gesellte sich zu ihm, nahm dankbar das Glas entgegen und leerte es in einem Zug.
„Hat dich der Holländer so durstig gemacht?“, fragte er schmunzelnd. „Die Luft ist in der Tat ziemlich trocken im Parkett. Noch ein Glas Sekt oder lieber ein Wasser?“
„Wasser, bitte“, antwortete sie geistesabwesend. Pascal reihte sich in die Wartenden vor der Getränketheke ein.
„Wie gefällt dir der Godfree? Du bist bei Gesangssolisten gewöhnlich ja noch kritischer als ich“, fragte er, nachdem er mit einer Flasche Wasser zurückgekommen war.
Leonie erschrak. Das hatte Pascal nicht verdient, dass sie so geistesabwesend war. „Seine Stimme ist gut“, versuchte sie sich auf den Small Talk zu konzentrieren. „Irgendwie sehr erotisch, finde ich. Er verkörpert die Rolle, als hätte Wagner sie für ihn geschrieben.“
„Höre ich da ein Aber?“
Leonie überlegte einen Moment, wie sie sich ausdrücken sollte, bevor sie den Satz vollendete: „Aber er ist mir irgendwie …“, sie zögerte unsicher, „unheimlich.“
„Unheimlich? Geht die Fantasie mal wieder mit meiner schönen Frau durch? Die Rolle an sich ist unheimlich, zumindest in den Augen von Seeleuten.“
Leonie ließ die Frage offen, der Gong rief sie zurück auf ihre Plätze.
Im zweiten Akt, der eine Spinnstube zeigte, hing ein überdimensional großes Bild des Holländers an der Wand. Der Blick seiner Augen stach ihr mitten ins Herz. Als die Senta in ihrer Auftrittsarie ihre Sehnsucht nach dem Fremden auf dem Gemälde besang, war Leonie, als sei sie es, die all ihr Sehnen, all ihr Verlangen, all die Sinnlichkeit, zu der sie fähig war, in verträumten Gesang umsetzte.
Im dritten Satz bescherte Senta, bescherte Leonie in ihrer Fantasie dem Holländer jene Erlösung, deretwegen er viele Jahre das Meer als Schrecken aller Seeleute befahren hatte auf der Suche nach ihr.
Erlösung!
Dieses Wort ging Leonie nicht mehr aus dem Kopf. Suchte sie etwa auch danach wie die Protagonistin? Aber Erlösung wovon? War sie nicht glücklich? Hatte sie nicht einen lieben Mann, Eltern, die sie vergötterten, ein gutes Leben, einen Beruf, der sie ausfüllte? Ihr schien der Kopf zu zerspringen, so sehr quälten sie Fragen, auf die sie keine Antworten fand. Oder war es der geheimnisvolle Fremde, der in ihren Träumen nach Erlösung suchte? Erwartete er ihren Beistand? Warum?
Erst der stürmische Applaus am Ende der Vorstellung riss sie aus ihren Wachträumen. Nach minutenlangen Ovationen gaben ihr beim Aufstehen die Knie nach. Sie hakte sich bei Pascal ein, benötigte Halt.
„Wollen wir noch irgendwo etwas essen gehen?“, hörte sie ihn von weither fragen und bemerkte seinen besorgten Blick. „Du siehst aus, als hättest du großen Hunger.“
„Sei mir nicht böse, aber mir ist nicht danach zumute. Mich hat urplötzlich eine Migräne befallen. Ich fürchte fast, der Abend ist für mich gelaufen.“
„Gut, dann gehen wir zurück ins Hotel und trinken an der Bar noch einen Absacker. Vielleicht können wir dort auch noch einen kleinen Imbiss zu uns nehmen“, schlug Pascal vor. „Etwas essen muss ich noch, mein Magen beschwert sich unüberhörbar über Vernachlässigung.“
Im Hotel angekommen, setzten sie sich an ein Tischchen an der Bar. Pascal bestellte sich einen Whisky und für Leonie einen alkoholarmen Cocktail. Leonie entschied sich, doch noch einen Toast zu nehmen, während Pascal sich ein Pfeffersteak mit Pommes und Salat sowie eine Karaffe Rotwein bestellte.
Nachdem sie gegessen hatten, sagte Leonie: „Pascal, sei mir, bitte, nicht böse, ich möchte mich hinlegen. Du kannst gerne an der Bar bleiben, wenn du magst. Es sitzen noch ein paar attraktive Damen hier, wie dir kaum entgangen sein dürfte.“
„Deine Großzügigkeit weiß ich sehr zu schätzen, aber wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns“, antwortete er. „Ich denke, ich sollte auch ausgeruht sein. Ich gehe mit dir hoch.“
Als Leonie in ihrem hauchfeinem Negligé aus dem Bad kam und sich ins Bett legte, drehte sich Pascal zu ihr um und holte Luft: „Liebes, ich kenne ein ziemlich gutes Mittel gegen Migräne.“
„Bitte, heute nicht“, wehrte sie ab, „wir haben doch noch viele Stunden Gelegenheit in unserem Urlaub.“
Sie küsste ihn eher flüchtig denn zärtlich. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie wieder weit weg war. Verdrossen nahm er ein Magazin zur Hand und las noch einen längeren Artikel, der ihn interessierte.
Leonie hingegen tat, als ob sie eingeschlafen wäre, doch quälten sie Gedanken, die auf sie einstürmten, die einzuordnen ihr nicht gelang. Endlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Kapitel 3