Einer von Zweien. E. K. Busch

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Einer von Zweien - E. K. Busch

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hatte sie Frederik streng angesehen und hinzugefügt: „Ihr müsst euch jetzt im eigenen Lesen üben.“

      Nicht, dass Fred daraufhin noch ein Buch ergriffen hätte!

      In den folgenden Monaten, Jahren, würde ich Doktor Eichinger jede Woche besuchen. Wir einigten uns, als die Schule wieder begonnen hatte, auf Mittwochabend. Doch schon bald hatte ich alle Bücher, die es in der Bibliothek gab, gelesen. Als ich also erneut das stinkende Mathematikbuch ausleihen wollte, fragte mich Doktor Eichinger: „Hast du dieses Buch nicht schon einmal ausgeliehen?“

      Der Doktor hatte nämlich ein ganz ausgezeichnetes Gedächtnis; so viele Schwächen er anderweitig auch gehabt haben mochte. Vielleicht war er sogar trotz einiger unübersehbarer Makel, ein recht akzeptabler Mentor.

      Ich sah den alten Mann verlegen an. „Ich habe alle Bücher schon einmal ausgeliehen. Also fange ich wieder von vorne an. Schließlich habe ich vieles schon wieder vergessen oder beim ersten Mal nicht verstanden.“

      Von diesem Abend an ließ mich Doktor Eichinger Bücher aus seiner privaten Sammlung ausleihen, die besser bestückt und etwas sortierter war. Es schien, als hätte ich mir den Zutritt zu seinem Bücherreich erst verdienen müssen.

      Da gab es einige Klassiker der Weltliteratur in seinem Regal, die mich in fremde Zeiten und Welten entführten. Er schätzte die Dramen der alten Griechen.

      „Alles andere nur müder Abklatsch!“

      Shakespeare fand er zu englisch, Goethe zu belehrend, Schiller zu gehaltlos.

      „Aber man muss die alten Schinken zumindest einmal gelesen haben“, pflegte er zu sagen.

      Ein paar Geschichtsbücher besaß er auch. Wieder waren ihm die Griechen und Römer die liebsten, auch vermochte er noch großen Gefallen am Mittelalter zu finden. Man merkte ihm doch eine gewisse Liebe zur „germanischen“ Geschichte an. Friedrich I, Barbarossa also, war ihm besonders lieb. Die neuere Geschichte vermochte ihn dagegen überhaupt nicht zu interessieren. Vermutlich waren die Zeichen der Zeit nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Auch besaß der Mann einige philosophische und naturwissenschaftliche Bücher. Aber vor allem gab es da juristische Fachbücher in seinem verstaubten Bücherregal, deren Titel ich nicht einmal verstand.

      Doktor Eichinger und ich trafen uns wie gehabt mittwochabends, aber nun unterhielten wir uns über das, was ich gelesen hatte, und er versuchte zu erklären, was ich nicht verstand. Nur über die juristischen Bücher wollte er nicht sprechen, nicht einmal lesen durfte ich diese Bücher.

      „Zum einen, mein Junge: Es sind Nachschlagewerke. Sie eignen sich nicht zur Lektüre. Zum anderen: Die Juristerei verfolgt mich bereits den lieben langen Tag. Wenigstens abends will ich verschont bleiben von ihr!“

      Ich akzeptierte diese Regelung bereitwillig, schienen mir die dicken Wälzer doch ohnehin sehr trocken und langweilig. Nicht, dass alle andren Bücher gerade packend gewesen wären!

      Wie ich nun wusste, wohnte Doktor Eichinger von Donnerstag bis Sonntag in der Stadt und langweilte sich also von Montag bis Mittwoch in unserem Provinznest ganz schrecklich, so dass er sich immer sehr über meine Besuche freute. Zumindest er empfand also Freude.

      Doktor Eichinger half mir beim Verstehen der großen Literatur, brachte mir auch das Mühle- und das Schachspiel bei und weihte mich ein in die Kunst des Sarkasmus und der Ironie. Ich sträubte mich lange diese Wortdrehereien, die mir insgeheim etwas verlogen und hinterhältig vorkamen, zu gebrauchen, obwohl sie mir bald zu jeder Zeit auf der Zunge lagen. Es gelang dem Doktor, mich davon zu überzeugen, dass Diskussionen lehrreich waren und man nicht unbedingt zu einer Einigung gelangen musste, ja dass ein Mensch seine Ansichten manchmal sogar stur gegen allen Widerstand verteidigen musste.

      „Und merke dir, Konrad: Nur wer kritisch denkt, vermag zu erkennen!“

      „Was zu erkennen?“, fragte ich und betrachtete mit schrägem Kopf eine Kopie Dürers Hasen an der ausgeblichenen Wand.

      „Alles, mein Junge. Alles.“

      Nach einigen Jahren jedoch, da war ich wohl fünfzehn, war Doktor Eichingers Freude an meiner Gesellschaft so gut wie dahin. Meine Wissbegierde wurde ihm allmählich lästig und zugleich, doch das wollte er sich nicht eingestehen, gab es auch nicht mehr viel, was er mich hätte lehren können. Viele Bücher, die da in seinem hohen Regal standen, hatte er selbst nie gelesen. Dass er sie dennoch ausstellte wie Trophäen, war möglicherweise heuchlerisch aber mit Sicherheit peinlich. Dies jedoch war nicht der eigentliche Todesstoß unserer Beziehung: Doktor Eichinger konnte meine Frömmigkeit nicht länger ertragen und wir führten einen fortwährenden und unerbitterlichen Glaubenskrieg in dem ich Gott sicherlich ebenso inbrünstig verteidigte wie es der Erzengel Gabriel an meiner statt getan hätte.

      „Du bist ein verdammter Narr!“, rief Doktor Eichinger dann, hatte das Gespräch seinen Höhepunkt erreicht. Der alte Mann tauchte seinen langen Zinken ins Rotweinglas, nahm einen kräftigen Schluck zur Kühlung der überhitzten Gemüter und hustete darauf erbost.

      „Siehst du denn nicht, dass es keinen Gott gibt? Hast du das denn noch immer nicht verstanden?“

      Sein stechender Blick hätte mich sicherlich eingeschüchtert, wäre ich ihn nicht ebenso gewohnt gewesen wie seinen schrillen Tonfall, der oftmals zu ersticken schien vor spröder Trockenheit.

      Ich blieb ruhig. „Doktor Eichinger, ich verstehe durchaus, dass der Mensch auf Gott seine Sehnsüchte projiziert“, bei diesem Wort musste ich immer acht geben, mich nicht zu versprechen: „Ich sehe auch ein, dass viele Menschen den Glauben für ihre Zwecke missbrauchen und dass viel Schlechtes geschieht auf dieser Welt – trotz Gott. Kurz um: Die Theodizee. Aber warum sollte es deshalb keinen Gott geben? Der Mensch ist nun einmal fehlerhaft und erst mit dem Sündenfall ist all das Übel auf die Welt gekommen.“

      „Konrad!!!“

      Der Doktor war nun wirklich zornig.

      „Was sind das für alberne Kindermärchen? Wie kannst du nur so verbissen an einem solchen Humbug festhalten!“

      „Doktor Eichinger, wie können Sie so verbissen an Ihren Zweifeln festhalten?“

      Nun leuchtete die rote Farbe auf seinen pergamenternen Wangen, die er sich im Laufe des Abends so fleißig angetrunken hatte. Er fuhr aufgebracht fort: „Das musst du doch einsehen, Konrad! Bevor etwas als tatsächlich angenommen werden kann, muss es erst einmal bewiesen werden!“

      „Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus mögen Sie Recht haben. Aber die Frage nach Gott ist keine naturwissenschaftliche Frage; sie spielt sich in einer ganz anderen Dimension ab. Der Glaube braucht keinen Beweis, eben weil er Glaube ist.“

      „Aber Konrad, die Menschen glauben nur, weil sie einen Sinn wollen und einen Gott. Aus Angst nämlich. Aus Angst vor dem Tod.“

      „Man kann nicht glauben, weil man es will. So wenig wir man hofft oder liebt, weil man es will. Der Glaube wird dem Mensch von Gott geschenkt in seiner Gnade und der heilige Geist ist der Bote dazu.“

      Doktor Eichingers Gesicht verwandelte sich in eine schmerzerfüllte Grimasse, dann begoss er seinen Verdruss mit weiterem Wein.

      „Sie sind mir nun doch nicht böse?“, fragte ich ihn vorsichtig: „Immerhin haben Sie mich doch zu widersprechen gelehrt!“, und ich grinste ihn bösartig an. Mit einem bösartigen Grinsen und einer bissigen Bemerkung hatte ich ihn meistens versöhnen können.

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