Einer von Zweien. E. K. Busch
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„Du bist ein guter Junge, Konrad“, erwiderte der alte Mann schließlich und schüttelte müde den Kopf. Dann nahm er wieder einen Schluck Wein.
Zögerlich fügte er hinzu: „Ein zu guter Junge vielleicht. Aber du wirst die Wahrheit irgendwann erkennen und dann wirst du endlich befreit sein von diesen albernen Vorstellungen, die sie dir da drüben“, er zeigte mit seinem zittrigen knochigen Finger zum Fenster hinaus auf die Kirche, die in der Dunkelheit des Winterabends nur als Schatten zu erahnen war: „die dir dieser lausige Pfarrer da drüben einimpft.“
Ich verkniff mir eine Erwiderung, weil ich den Alten nicht weiter reizen wollte. Mit den Jahren waren seine Reden immer aggressiver und herrischer ausgefallen, seine Argumentation war immer absoluter und doch schwächer geworden. Es hatte keinen Zweck, sich mit ihm anzulegen.
Ob Doktor Eichinger nun bezüglich Gottes Existenz richtig lag oder nicht, zumindest mit einer seiner Aussagen lag er falsch. Ich glaubte nicht, weil der Pfarrer, dieser dickliche, pickelige Mann, der höchstens noch an einen Schweinehirten gemahnte, irgendeinen unlauteren Einfluss auf mich hatte - oder gar meine Eltern, die doch eigenständig noch keinen einzigen Vers der heiligen Schrift gelesen hatten. Ich glaubte, weil ich mir den Glauben selbst mit all meiner Kraft „einimpfte“, wie es der Doktor genannt hatte. Selbst-kasteiend rammte ich mir die Spritze tagtäglich ins Fleisch und verabreichte mir das heilige Serum. Zwar war ich kein Ministrant, wie Fred es war, denn meine knapp bemessene Zeit ließ dies kaum zu und zudem taten die Ministranten mehr Unsinn als Dienst an Gott, aber ich besuchte die Kirche, so oft ich nur konnte. Nicht nur jeden Sonntag, nein oft auch unter der Woche fand man mich im Gotteshaus. Dort kniete ich still vor der heiligen Jungfrau in blauem Gewand, die da ein wissendes Lächeln aufgelegt hatte, und betete ehrfürchtig. Ich war sozusagen ihr größter Fan. Stets zündete ich eine Kerze an und dankte jedem für alles und betete nie für mich selbst. Alle Heiligen in den bunten Fenstern waren sich sicher: Wenn einer einen Platz im Himmel verdient hatte dann der sittsame Junge dort unten zu Füßen der Maria. Petrus hätte mich mit offenen Armen empfangen. Dann hätte er, während er mit dem großen Schlüssel hantierte, beiläufig bemerkt: „Wir warten alle schon so lange auf dich. Er spricht in den höchsten Tönen von dir.“
Ich hätte selbstverständlich äußerst bescheiden zu Boden geblickt. Dann wären die großen Torflügel aufgeschwungen und unter wunderbaren Sphärenklängen hätte Petrus lächelnd erklärt: „Dann Mal ‘rein in die gute Stube!“
Vielleicht scheint es hier irrtümlicherweise so, als hätte ich Doktor Eichinger gern gehabt, den alten Mann gut leiden können. Tatsächlich jedoch plagten mich vor jedem Treffen Bauchschmerzen. Sie saßen etwa auf Höhe meines Bauchnabels und standen in Zusammenhang mit einem latenten mittwöchigen Durchfall.
Diese Stunden in Doktor Eichingers Wohnzimmer waren weit furchterregender als jede Klassenarbeit. Der Alte nämlich stellte mich nicht nur auf die Probe, sondern quälte mich mit Abscheu und mitunter Geschrei, wann immer ihm eine meiner Meinungen nicht passte. Auch fluchte er manchmal, dass ich es kaum ertragen konnte. Zudem war ich durch die bevorstehenden Treffen gezwungen, die bisweilen unerträglich trockenen und unverständlichen Bücher zu lesen, die im besten Fall noch einige Abbildungen enthielten. Von einer Zeichnung quälte man sich dann dankbar über jedes entfallene Wort zur nächsten, wie ein Schiffbrüchiger von einer Sandbank zur anderen ohne doch jemals wirklich trockenen Fußes zu sein.
Es stellt sich natürlich die Frage, wieso ich mich dennoch auf diese grauslichen Treffen einließ und zudem noch an meinen eignen Meinungen festzuhalten versuchte. Für diesen Entschluss waren wieder einmal zwei Dinge verantwortlich: Zum einen eine übergroße Selbstbeherrschung und zum anderen eine überstarke Vernunft. Denn ich wusste, dass Doktor Eichinger mir Dinge beizubringen vermochte, die mich sonst niemand hätte lehren können. Und wie Mutter zu sagen pflegte: „Lerne so viel du nur kannst, Konrad. Wissen ist niemals von Schaden.“
Doktor Eichingers größter Verdienst war es dabei, dass er mir sozusagen die Zunge gerade bog. Er trieb mir den Dialekt aus und lehrte mich in Rhetorik. Zum einen lernte ich dabei durch das bloße Zuhören, denn der Doktor war ein ziemlich respektabler Sprecher, zum andren korrigierte mich der Mann zumindest zu Beginn unserer Bekanntschaft fortwährend, ließ kaum einen meiner Sätze bestehen. Zudem wurde ich durch Doktor Eichingers Unterricht in eine Disziplin eingeführt, die ich in einigen Jahren in Perfektion beherrschen würde. Noch war ich zwar ein wenig unbeholfen, doch später würde es mir gelingen, nahezu mühelos von einer Rolle in die andre zu schlüpfen. Unter des Hasens wachsamen Blick übte ich mich zum ersten Mal im Spiel, auch wenn ich mich noch nicht ganz und gar von mir lösen konnte. Denn war ich dem alten Mann gegenüber auch skeptisch, bisweilen herausfordernd und stets um Wortgewandtheit bemüht, so gelang es mir doch nicht, meine schlichte Bodenständigkeit loszuwerden. Und gab ich mich Zuhause und in der Schule brav, friedliebend und zurückhaltend, so fiel es mir doch schwer, meinen kritischen Geist einfach auszuschalten und das Erlernte bis zum nächsten Mittwoch zu vergraben. - Wie mich Mutter angesehen hatte, als ich eines Mittags am Tisch erklärt hatte, Frau Meier wäre der jovialste Mensch, den es wohl auf diesem Planeten gäbe. Ihre Züge waren hart geworden und sie hatte bemerkt: „Du sollst nicht so über andre Menschen sprechen, Konrad.“
Ich hatte sie irritiert angesehen, dann beschämt in meiner Kartoffelsuppe gelöffelt. Widerspruch war von Mutter noch nie toleriert worden.
Nach einer ziemlich langen Pause hatte Fred schließlich bemerkt: „Konrad sagt doch nur, was ohnehin alle denken. Die Alte ist komplett irre. Karl hat sie neulich mit seinem Vater verwechselt. Mit hundertundfünfzig ist man vermutlich nicht mehr ganz klar im Kopf.“
Er hatte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe getippt, ihn dann mitsamt seinem Kopf kreisen lassen. Das breite Grinsen entblößte Petersilie zwischen seinen Zähnen. Die saß bei ihm immer am gleichen Eckzahn.
Mutter sah nun auch ihn tadelnd an. Nach einigen Minuten der Stille kam dann noch ein zweites Thema auf den Tisch. Vater solle endlich den Schuppen aufräumen - Ihren stechenden Blick nahm Vater jedoch überhaupt nicht war, fragte stattdessen: „Was bedeutet jovial?“
„Das wird dir Konrad erklären können!“
Den Löffel hielt sie fest in der Hand.
„Jovial bedeutet fröhlich. Weil Frau Meier… Sie freut sich über alles und jeden und…“
„Ist ja auch völlig nebensächlich“, unterbrach Mutter mich jäh. „Ich möchte, dass du nachher den Schuppen aufräumst, Josef. Man kann sich da drinnen ja kaum noch um sich selber drehen.“
Und wo ich mich gerade alter Tage besinne, sind wohl auch einige Sätze über die Schule angebracht. Irriger Weise könnte man meinen, für einen strebsamen, wissensdurstigen Jungen, oder einen, der sich die größte Mühe gab, solch ein Junge zu sein, könnte es keinen schöneren Ort auf der Welt geben als eine öffentliche Lehranstalt. Tatsächlich jedoch empfand ich den Unterricht in diesem heruntergekommenen Bau, den auch die künstlerischen Meisterwerke der nicht einmal mittelmäßig begabten Dorfjugend nicht aufzuwerten vermochten, als fortwährende Qual.
Es ist wohl bereits zu erahnen, dass ich nicht viel Neues lernte im sogenannten Unterricht. Trotzdem immer aufmerksam zu sein, war eine bisweilen zu große Herausforderung selbst für meine Selbstbeherrschung. Ich tuschelte nicht mit meinem Nachbarn. - Ohnehin hatte ich bald eine Bank für mich allein oder teilte sie mir mit dem größten Trottel. Diesen freilich hatte mir dann die Lehrerin zur Seite verpflanzt, damit ich ihm ein bisschen behilflich wäre – oder ihr. Ich schrieb auch keine Zettelchen oder kritzelte auf meinen Tisch und las erst recht nicht in Comicheften. Nicht einmal meine Stifte wagte ich zu sortieren, um ehrlich zu sein. - Stattdessen träumte ich, oder besser gesagt: