Neues Leben für Stephanie. Lisa Holtzheimer
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Es war stockdunkel im Zimmer. Michael tastete nach dem Klingelknopf. Nur ungern rief er mitten in der Nacht die Schwester, weil deren Erscheinen sicherlich seine Mitpatienten aufwecken würde. Aber die Schmerzen in seinem Bein waren kaum noch auszuhalten. Die Tür wurde leise geöffnet und Stephanie schaltete die Nachtbeleuchtung ein. Ein kurzer Blick in Michaels Gesicht genügte, um zu wissen, was er brauchte. „Schmerzen?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Michael nickte. „Irgendwas in meinem Bein brennt wie Feuer. Kann man das irgendwie löschen?“ Dass er selbst in einer Situation mit starken Schmerzen seinen Humor nicht verlor, beeindruckte Stephanie. „Ich will mal sehen, was die Feuerwehr sagt“, lächelte sie, „ich melde mich gleich noch mal.“
Die Krankenakte von Michael Aschmann erlaubte nach dem Zeitraum, der seit der letzten Schmerzmittelgabe vergangen war, schon wieder eine Dosis, und so zog sie eine Spritze mit dem Mittel auf und stattete Michael einen weiteren Besuch ab. Bei diesem Anblick verzog der zwar das Gesicht, meinte dann aber, dies sei wohl das kleinere Übel, und war froh über die Aussicht, in ein paar Minuten wieder schlafen zu können. „Vielen Dank. Jetzt fühle ich mich zwar wie ein Nadelkissen, aber wie ein sehr müdes.“ Stephanie musste lachen. „Gute Nacht, Herr Nadelkissen. Schlafen Sie gut für den Rest der Nacht.“ Sie grinste und schlich wieder leise zur Tür. Bevor sie die Nachtbeleuchtung wieder löschte, winkte sie spontan noch einmal in Richtung Fenster.
Zurück im Stationszimmer trug sie die Medikamentenverabreichung in die Krankenakte ein und warf dann einen Blick auf die Uhr. 2 Uhr 43. Noch gut drei Stunden, bis die Frühschicht kam. Und noch 4 Dienst-Tage bis zu ihren freien Tagen. Fröhlich vor sich hin pfeifend, erledigte sie die noch anstehenden Aufgaben im Dienstzimmer, wusch ein paar Tassen ab, die der Spätdienst vergessen hatte, stellte die Medikamente für den Frühdienst zusammen und setzte sich dann mit einem Buch in die Ecke. Zeit zum Lesen hatte man in solchen Nachtdiensten – die meisten Patienten schliefen durch, nur einige Frischoperierte benötigten manchmal die Hilfe der Schwestern. Aber eine Nachtwache war lang. Stephanie hatte schon halbe Bibliotheken in den Nächten verschlungen. Es dauerte nicht lange, und sie war ganz in ihren Roman eingetaucht.
Als jemand plötzlich gegen das Buch klopfte, erschrak Stephanie beinahe zu Tode. Vor ihr stand Britta, die Frühdienst hatte und sich fast vor Lachen kugelte. Sie hatte sich unbemerkt ins Dienstzimmer geschlichen und konnte es sich nicht verkneifen, die Freundin zu ärgern. „Britta, du Untier! Gleich kriege ich einen Herzinfarkt, dann darfst du mich hier auch noch pflegen.“ „Naa“, gab Britta in tiefstem Bayerisch zurück, „des ist die falsche Station. Es sei denn, sie operieren dir vorher das Herz raus, dann bist du auf der Chirurgie richtig.“ Stephanie schüttelte grinsend-resigniert den Kopf. Jetzt merkte sie die Müdigkeit in sich hochsteigen, und ihre Schlagfertigkeit war schon schlafen gegangen.
So nach und nach kamen auch die anderen Schwestern zum Frühdienst, und Stephanie gab in der Dienst-Übergabe einen kurzen Bericht über das, was in der Nacht vorgefallen war, bevor sie sich ihren Rucksack schnappte und nur noch ein Ziel hatte: ihr Bett zu Hause.
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Nur langsam wurde Stephanie bewusst, dass sie nicht vom Radio träumte. Ihr Handy, das auf dem Nachttisch lag, dudelte eine Melodie rauf und runter – am anderen Ende hatte jemand sehr viel Geduld. Im Halbschlaf streckte sie die Hand aus, versuchte aus der Anzeige im Display den Anrufer zu erkennen, erkannte eine Hamburger Vorwahl und machte sich nicht weiter die Mühe, die lange Zahlenreihe auseinanderzupflücken. „Hallo?“ meldete sie sich verschlafen, um als nächstes aufrecht im Bett sitzend zu fragen: „Woher hast du meine Telefonnummern?“
Carsten hatte ihre Mutter bestochen, die ihren Ex–Fast–Schwiegersohn sehr mochte und immer noch nicht verstehen konnte, warum ihre Tochter sich von ihm getrennt hatte. Ein wenig hoffte sie auf eine Erneuerung der Beziehung und damit verbunden auf Stephanies Rückkehr nach Hamburg. Carsten wollte wissen, warum Stephanie nach seinem letzten Anruf nicht zurückgerufen hatte. „Mensch, ich bin hundemüde, ich hatte Nachtdienst, und du hast nichts Besseres zu tun, als mich aus dem Schlaf zu klingeln und mir Vorwürfe zu machen. Was soll das?“ Carsten holte zu einem längeren Redeschwall aus, was Stephanie dazu veranlasste, das Telefon ein Stück vom Ohr weg zu halten. „Carsten, hast du vergessen, was wir ausgemacht hatten? Keinen Neuanfang. Es endet sowieso wieder in einer Katastrophe.“
Carsten schien das anders zu sehen, und als er Stephanie seine nächste Idee unterbreitete, war sie hellwach. „Wie bitte?? Besuchen? Nee, tut mir Leid, aber das kannst du vergessen.“ Ihr Ex–Freund hatte Urlaub und wollte nächste Woche nach Südbayern kommen. „Ist ja nett, dass du mir wenigstens gerade noch vorher verrätst, dass du über meine Zeitplanungen verfügen möchtest“, antwortete sie gereizt, „aber ich muss dich enttäuschen. Ich kann dir natürlich nicht verbieten, nach Bayern zu kommen – von mir aus auch nach Berchtesgaden, aber ich werde dich nicht treffen!“ Sie legte einen solchen Nachdruck in diese Aussage, dass Carsten zum ersten Mal während dieses Gesprächs zu verstehen schien, dass sie ihn wirklich nicht sehen wollte. Er hatte sich eigentlich vorgestellt, doch noch einmal zu versuchen, die Beziehung zu erneuern. Stephanie würde bestimmt wieder eine gute Stelle in Hamburg bekommen, davon war er überzeugt. In den Monaten der Trennung hatte er gemerkt, dass sie ihm mehr bedeutete, als er sich lange eingestehen wollte, und mit einem Besuch in Berchtesgaden wollte er ihr zeigen, dass er sich für ihr Leben interessierte.
Stephanies kategorische Absage traf ihn. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er im Grunde immer noch eine Chance gesehen, für ihn war die Trennung mehr auf Zeit angelegt, während Stephanie einen echten Schlussstrich gezogen hatte. Nicht umsonst hatte sie ihr gesamtes Leben umgeworfen und einen totalen Neuanfang gemacht. Leicht war ihr das nicht gefallen, und sie war fest entschlossen, sich nicht umstimmen zu lassen. Mindestens ein Jahr wollte sie durchhalten, um sich selbst erst einmal die Chance zum Einleben zu geben – wenn dann immer noch keine Aussicht auf Eingewöhnung bestand, dann konnte man das Ganze noch einmal neu überdenken. Aber nicht vorher. Und gerade begann sie zu merken, dass sie vermutlich nichts mehr neu überdenken würde nach Ablauf des ersten Jahres – langsam fasste sie mehr und mehr Fuß, hatte eine echte neue Freundin gefunden, und auch ihre Arbeitsstelle war ein echter Glückstreffer. Das alles wollte sie sich von Carsten nicht wieder kaputt machen lassen.
„Nein, Carsten“, unterbrach sie seinen erneuten Ansatz abrupt, „ich möchte mich hier in jeder Hinsicht neu orientieren, und ich möchte nicht, dass du hier auftauchst. – Nein, es gibt keinen anderen Mann, aber es gibt auch noch mehr im Leben als Männer. Es tut mir Leid, wenn ich dir das jetzt so knallhart sage, aber alles andere belastet uns beide nur unnötig.“ Darauf fiel Carsten nicht mehr viel ein, das er entgegnen konnte. Er wollte Stephanie nicht bedrängen, hatte es wirklich ernst gemeint. Doch in diesem Moment verstand er, dass seine Hoffnungen sich in Luft aufzulösen schienen. Sehr schnell verabschiedete er sich und beendete das Gespräch. Stephanie legte sich wieder hin, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Auch, wenn es ihr mit der endgültigen Trennung wirklich ernst war, wühlte sie dieses Gespräch doch wieder auf.
Gleichgültig war Carsten ihr noch lange nicht – dazu war alles noch nicht lange genug her. Fast sechs Jahre waren sie ein Paar gewesen, hatten zwar getrennte Wohnungen, aber sich so gut wie täglich gesehen. Sechs Jahre lassen sich nicht einfach auslöschen, und schließlich war Carsten ein anständiger, freundlicher und aufmerksamer Bankkaufmann und wirklich kein Hallodri. Aber sie war sich darüber im Klaren, dass eine Beziehung zwischen ihnen keine wirkliche Aussicht auf Zukunft hatte. Und sie wollte sich und ihm ersparen, die ganze Geschichte noch einmal durchzumachen. Nein, es war besser so und auf jeden Fall eine richtige Entscheidung. Wie gut, dass es bis zu Janas Besuch nur wenige Tage waren. Die Vorfreude darauf half ihr, die unguten Gefühle in Bezug auf Carsten zu überdecken. Am liebsten hätte sie Jana umgehend angerufen, aber die war natürlich im Büro um diese Zeit – und solche Gespräche