Blutige Fäden. Fabian Holting
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Ich sah woanders hin und vernahm nur ihre Worte. »Danke«, sagte ich geistesabwesend. Ihre Tür schloss sich wieder. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und bemerkte, dass die Tür zu Saschas Zimmer gar nicht abgeschlossen war. Seltsam, dachte ich, aber wahrscheinlich hatte seine Mutter es heute Morgen vergessen. Ich trat ein. Ein Studentenzimmer wie jedes andere auch, allerdings war das Bett gemacht und es war aufgeräumter als bei mir zu Hause. Direkt neben dem Bett stand der Schreibtisch, der aus zwei Rollcontainern und einer stabverleimten Buchenholzplatte bestand. Marke Eigenbau also. Daneben ein halbhohes Billy-Regal, der Studentenklassiker seit mehr als dreißig Jahren. In der anderen Ecke, am Fußende des so schön gemachten Betts, ein platzsparender Sessel, in dem Bud Spencer nicht hätte Platz nehmen können, ohne hinterher von der Feuerwehr befreit werden zu müssen. Und natürlich ein Kleiderschrank mit Schiebetüren, der vermutlich noch aus Saschas Kinderzimmer stammte. Ich nahm mir den Schreibtisch vor, der genauso gut aufgeräumt war, wie das ganze Zimmer. Vielleicht hatte auch seine Mutter Hand angelegt, um sich und ihrem Sohn eine Peinlichkeit zu ersparen. Ich musste sie unbedingt danach fragen. Selbstverständlich hätte ich gerne gewusst, wie Sascha sein Zimmer hinterlassen hatte. So etwas sagt manchmal mehr über den Gemütszustand eines Menschen aus, als tausend Worte. Aufgeräumt, wie alles war, musste ich zum ersten Mal daran denken, dass Sascha sich auch das Leben genommen haben könnte. Eine Stiftschale mit Kugelschreibern und Druckbleistiften war genau mittig auf der Tischplatte angeordnet. Dann war da noch ein schicker Briefbeschwerer aus poliertem Marmor in der Form eines überdimensionierten Springers. Die häufig spielentscheidende Figur eines versierten Schachspielers also. Darunter klemmten ein paar Bons. Ich nahm sie mir. Auf dem ersten Bon wurden ein USB-Ladegerät und ein MP3-Player abgerechnet. Der zweite Bon listete zwei Badeshorts und ein Handtuch auf. Diese beiden Bons waren auf den gleichen Tag datiert. Ich rechnete schnell nach. Er hatte sich diese Sachen zwei Tage bevor seine Mutter das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte gekauft. Wahrscheinlich lag ich mit meiner ersten Annahme doch goldrichtig. Sascha hatte die Schnauze voll gehabt und war in den Süden aufgebrochen, um sich die Sonne auf den Bauch knallen zu lassen und dabei vernünftige Musik zu hören. Ich suchte nach einer weiteren Bestätigung für meine Theorie. Ich nahm mir zwei unbeschriftete Leitz-Ordner aus dem Billy-Regal vor. Zu meiner Enttäuschung hatte er dort nur Skripte und Arbeitsblätter zu diversen Vorlesungen und Seminaren abgelegt, also keine Rechnungen von Reisebüros oder Fluggesellschaften. Sorgsam, wie ich es in den letzten Jahren als Privatermittler gelernt hatte, blätterte ich jedes der Bücher im Billy-Regal durch. Bevor ich die Bücher wieder zurückstellte, schüttelte ich jedes zudem gründlich aus. Leider segelte weder eine Notiz, ein geheimnisvoller Brief noch ein Geldschein heraus. Sascha war ein ordentlicher Student, aber ich hatte ja noch die Rollcontainer, den Kleiderschrank und das Bett zu durchsuchen. In den Rollcontainern lag das Übliche: Locher, weitere Stifte und Notizblöcke, aber alles sehr ordentlich eingeräumt. Wenn Sascha ein Notebook besaß, wovon ich ganz sicher ausging, musste er es mitgenommen haben. Ich sah mich wieder im Zimmer um. Nicht einmal ein Rucksack lehnte an der Wand. Ich nahm mir den Kleiderschrank vor. Wenn er tatsächlich verreist war, dann kam er entweder mit sehr wenigen Klamotten aus, oder er wollte nur einige Tage bleiben. Vielleicht war ihm doch etwas passiert, was ihn daran hinderte, zurückzukehren. Es musste ja nichts Schlimmes sein, ein nettes Mädchen im gleichen Hotel konnte schon ausreichen. Ich durchwühlte das Bett und fand noch nicht einmal einen Schlafanzug. Auch unter dem Bett war nichts, nicht einmal ein benutztes Taschentuch. Schade dachte ich, bis auf die Bons keine weiteren Anhaltspunkte dafür, dass er für längere Zeit verreist war. Ich wollte schon gehen, als ich auf dem Boden, direkt neben dem Schreibtisch, zwei dicke Wälzer übereinandergestapelt liegen sah. Es waren die Standardwerke für Betriebswirtschaftslehre. Ich fragte mich, ob die vorher auf dem Schreibtisch gelegen haben könnten. Zuunterst lag eine Kladde. Ich zog sie heraus und klappte sie auf. Auf den ersten Seiten erkannte ich, dass Sascha sich hier während der Vorlesungen und Seminare Notizen gemacht hatte. Vorsorglich nahm ich die Kladde mit. Ich schloss die Zimmertür ab und betrachtete kurz das Schloss. Mir fiel nichts weiter auf.
Es hatte endlich aufgehört zu regnen, doch die Luft war noch immer nasskalt. Es war Viertel vor drei. Wenigstens blieb es draußen lange hell, wenn schon nichts vom nahenden Sommer zu spüren war. Ich fuhr mit meinem kleinen Cinquecento zurück zum Büro. Bitte tanken leuchtete im Display auf, als ich einparkte. Geld hätte ich für eine Tankladung gehabt, doch keine Lust, mich jetzt damit aufzuhalten. Ich schloss den Wagen ab und ging hinauf in mein Büro. An meinem Schreibtisch sitzend, goss ich mir Kaffee aus der Thermoskanne ein und checkte dann die E-Mails. Der Kaffee war lauwarm und schmeckte bitter. Ich hatte keine neuen Nachrichten und auch keine entgangenen Anrufe. Vielleicht sollte ich für mehrere Wochen eine Anzeige in der Samstags-Ausgabe einer Zeitung schalten, dachte ich. Aber erst musste Sascha gefunden werden, wobei ich allerdings davon ausging, dass er höchstwahrscheinlich ganz von selbst wieder auftauchen würde. Ich beschloss, in meine Wohnung zu fahren und später von dort bei Frau Kessler anzurufen, um wie vereinbart, die ersten Ergebnisse meiner Ermittlungen mitzuteilen. Saschas Kladde ließ ich liegen und nahm nur den Schnellhefter mit. Als ich in den Fiat stieg, zeigte sich tatsächlich die Sonne am bewölkten Himmel, bis sich einige Sekunden später eine dicke Wolke davor schob. In der Straße, in der ich wohne, gibt es eine nette Szenekneipe. Am Wochenende kann man hier bis spät in den Nachmittag hinein frühstücken. Sie hatte bereits geöffnet und so ging ich auf ein verdientes Feierabendbier hinein. Ich war der erste Gast und die Bedienung begrüßte mich freundlich. Sie war gerade dabei, die Reservierungsschildchen auf die Tische zu stellen. Ich setzte mich an die Theke und bestellte bei ihr eine Minute später ein großes Astra. In der Küche wurden die Aufläufe vorbereitet, für die die Kneipe berühmt ist. Es roch nach frisch geschnittenen Zwiebeln. Ein älterer Mann mit ungepflegtem Vollbart und langen friedhofsblonden Haaren trat ein. Nicht nur seine Haare waren grau, sondern auch sein müdes Gesicht. Er nahm schwerfällig an einem der Tische vor den Fenstern Platz und schlug die taz auf, die er sich selbst mitgebracht hatte. Abends war die Kneipe gewöhnlich voll mit Pädagogen, Altachtundsechzigern und Studenten mit AStA-Karriere. Ich nahm einen langen Schluck von meinem Bier. Jetzt, wo der erste Auftrag Geld in die Kasse gespült hatte, sollte ich vielleicht später wiederkommen und mir einen Zucchini-Auflauf gönnen, überlegte ich. Zwei neue Gäste kamen herein. Dieses Mal zwei Männer mittleren Alters, schick im Anzug und modischer Krawatte. Ich trank aus und bezahlte. Draußen hatte ich das Gefühl, dass es einen Hauch milder geworden war. Vielleicht lohnte sich ein Blick auf die Wettervorhersage. Ich schloss die Eingangstür auf. Meine Wohnung liegt im dritten Stock. Ich liebe das alte Haus mit seinen sechs Parteien. Alles unkomplizierte Mitbewohner, vom Rentnerehepaar, dem Ingenieur bis hin zur Krankenschwester. Wo gibt es noch so etwas. Der Hausbesitzer lässt sich selten blicken und stellt keine Regeln auf, die ohnehin niemand einhalten würde. Ich nahm aus meinem verbeulten Blechbriefkasten die Tageszeitung heraus, für die ich am Morgen keine Zeit gefunden hatte und taperte die mit rotem Teppich bespannte Treppe hinauf. Unter meinen Füßen knarrte das alte Eichenholz bei jedem meiner Schritte. Ein herrliches Geräusch.
Um Punkt achtzehn Uhr griff ich zum Hörer meines schnurlosen Telefons. Während die Verbindung aufgebaut wurde, sah ich aus dem Fenster. Einer der beiden Schlipsträger stand vor der Kneipe und rauchte. Frau Kessler ging nach dem sechsten Klingelton ran.
»Terhagen hier«, meldete ich mich wichtig.
»Haben Sie schon etwas in Erfahrung bringen können?«, fragte sie mich.
»Noch nicht viel, aber ich habe einen Hinweis gefunden, der dafür spricht, dass Ihr Sohn lediglich verreist ist. Aber der Reihe nach.« Am anderen Ende der Leitung herrschte gebannte Stille. Da ich überlegte, wie ich beginnen sollte, entstand eine kurze Pause.
»Nun schießen Sie schon los«, sagte Frau Kessler ungeduldig.
»Also, ich war im Studentenwohnheim und habe mir sein Zimmer angesehen. Auf dem Schreibtisch lagen Bons. Ihr Sohn hat sich vor etwa dreieinhalb Wochen zwei Badeshorts und ein Handtuch gekauft. Wissen Sie, ober er gerne Schwimmen geht?«
»Ich weiß nur, dass er Hallenbäder hasst. Wenn er schwimmen geht, dann im Sommer draußen.«
»Da