Kindsjahre. Sebastian Liebowitz
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„Und wieso hängt er da am Kreuz und hat fast nichts an?“
„Weil ihn die Juden ans Kreuz genagelt haben. So, jetzt weisst du’s.“
Das war es also. Endlich sprach jemand mal offen aus, wer für diese gemeine Tat verantwortlich zu machen war. Was für ein mieses Lumpenpack diese ‚Juden‘ doch sein mussten. Nagelten sie doch einfach jemanden ans Kreuz. Noch dazu jemanden, der so nett aussah. Sicher tat das furchtbar weh.
„Aber so was darf man doch nicht machen, oder?“, hörte ich mich mit weinerlicher Stimme fragen.
„Juden schon, die machen so was“, konstatierte ‚Mutter‘, das ist denen egal, die nageln dich einfach ans Kreuz, wenn ihnen deine Visage nicht passt.“
Jetzt hatte „Vater“, der bis dahin ungerührt seine Zeitung gelesen hatte, genug gehört.
„Aber Mutter“, schalt er diese, und faltete kopfschüttelnd die Zeitung zusammen, „erzähl dem Kleinen doch nicht so einen Quatsch.“
„Wieso denn Quatsch?“, gab „Mutter“ zurück. „Stimmt das etwa nicht? Der Kleine soll nur wissen, wie das damals war.“
Aha. Mutter war also sozusagen Zeitzeugin. Kein Wunder, hatten die Geschehnisse sie traumatisiert. Da konnte „Vater“ gut reden, der die ganze Geschichte offensichtlich gerade mal vom Hörensagen kannte.
Trotzdem hatte dieser für einmal das letzte Wort. Er sah „Mutter“ mit einem nachsichtigen Blick an, wie er es immer tat, wenn die beiden einmal nicht einer Meinung waren, und warnte: „Mach bloss so weiter, du setzt dem Jungen am Ende noch Flausen in den Kopf.“
Und genau so war es dann auch.
Diese grausame Geschichte steckte mir nämlich noch tagelang in den Knochen. Fortan vermutete ich in jedem Fremden, der bei uns die Strasse entlanglief, einen Juden, der mich ans Kreuz nageln wollte. Ganze zwei Wochen lang traute ich mich kaum mehr aus dem Haus und wenn „Mutter“ mich nach dem Grund fragte, hüstelte ich und täuschte eine Erkältung vor. Es gibt zwar Angenehmeres, als im August gut zugedeckt mit Schal, Zipfelmütze und Bettflasche im Bett zu liegen und heissen Kamillentee zu trinken, aber dafür war ich in meinem Bett vor jüdischen Kreuznaglern sicher.
Dass diese Saat dann schliesslich doch nicht aufging, lag zum einen an „Vaters“ mahnenden Worten, die je länger, je mehr nachhallten und zum anderen am Umstand, dass unsere Familie zwar arm sein mochte, aber mit Antisemitismus und Rassismus überhaupt nichts am Hut hatte. Die Zeit bei den beiden sollte mich daher, von dieser denkwürdigen Episode einmal abgesehen, durchaus positiv prägen. Die regelmässigen Aufenthalte während meiner Sommerferien bescherten nämlich nicht nur meinem Bauchumfang, sondern auch meinem Wortschatz einen enormen Zuwachs.
Man denke sich nur, mein Vokabular umfasste auf einmal Fremdwörter, die uns zuhause nie über die Lippen gekommen wären. „Danke“ oder „bitte“ fallen mir spontan ein, aber auch Exotisches wie „Guten Tag“ und „auf Wiedersehen“ war dabei und sogar die eher persönliche Ebene wurde mit „Gesundheit“ und „Mahlzeit“ angeschnitten. Letzteres ein Wort, welches zuhause mangels Gelegenheit natürlich eher selten zum Einsatz kam.
Aber auch andere schlechte Angewohnheiten, die ich aus dem Exil mitbrachte, sorgten für Erheiterung. So zum Beispiel meine Frage, wieso man bei uns zuhause kein Tischgebet spreche, wenn es denn schon mal was zu essen gebe.
„Hihihi, hohoho, hört euch den an“, prustete mein Bruder Franz los, „‘danke‘, ‚bitte‘ und ‚Tischgebet‘, dass ich nicht lache. Kaum ein paar Wochen weg, schon hält er sich für was Besseres. Du kannst ja beten, dass ich dir nicht noch eine verpasse, du dämlicher Hosenscheisser.“ Zack, gab es eine Kopfnuss.
Kein Zweifel, ich war wieder daheim. Wiedersehensfreude sah anders aus.
Eine Geschichte von Hasenzüchtern und züchtigen Hasen
So rüde das Verhalten meiner Brüder auch erscheinen mag, man darf nicht vergessen, dass auch sie nicht viel zu lachen hatten. Mit meinem Auszug sollte ich nämlich eine Kettenreaktion ins Rollen gebracht haben, die weitreichende Auswirkungen auf unsere Familie hatte. Da es zuhause nun ja ein Maul weniger zu stopfen gab, blieb ein wenig Geld übrig, welches sinnvoll angelegt werden wollte. Ob jetzt „in der Kneipe versaufen“ sinnvoll ist oder nicht, sei einmal dahingestellt. Tatsache ist jedoch, dass Papa nach meinem Auszug nur noch mehr Zeit in der Kneipe verbrachte. Ich tröste mich immer noch damit, dass er seinen Trennungsschmerz im Alkohol ertränkte, was aber, wenn ich ehrlich bin, nicht sehr wahrscheinlich ist.
Auf jeden Fall zeugten bald deutliche Spuren von Urinstein am Schlafzimmerfenster von seinen ausgedehnten Sauftouren. Und da diese nicht selten bis in die frühen Morgenstunden dauerten und das Schlafzimmerfenster praktischerweise auf die Hauptstrasse zeigte, fanden seine Fensterpinkelvorführungen immer öfters vor interessiertem Publikum statt.
Die gelblich verfärbte Hauswand, ganz zu schweigen von dem Geruch, machten die ohnehin schon baufällige Immobilie zum Schandfleck im ganzen Dorf. Und als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, litt auch die Treffsicherheit meines Vaters immer mehr unter seiner Trunksucht. In seinem Beruf als Baggerführer konnte sowas schon mal ins Auge gehen. Beim aus dem Fenster pieseln war das freilich weniger ein Problem, die Hauptstrasse war ja breit und kaum zu verfehlen.
So kam es, dass der Chef meines Vaters den „versoffenen Penner“, wie er ihn nannte, hinausschmiss. Damit war auch Schluss mit der günstigen Wohnlage. Unser neues Zuhause lag dann leider nicht mehr ganz so zentral.
Wobei, das stimmt nicht ganz.
Es lag zwar zentral, aber zentral auf einer idyllischen Waldlichtung statt im Dorf. Die Anfahrt gestaltete sich daher etwas schwierig, denn zum Haus führte nur ein besserer Trampelpfad, der von Unkraut überwuchert war. Die Hütte hatte ihre besten Tage natürlich schon hinter sich, war aber wenigstens bezahlbar. Und im Garten konnte man sich zur Not etwas Gemüse anbauen, meinte Mama, und deutete mit einer weitausladenden Handbewegung auf ein paar Büsche und Steine, die von einem verlotterten Zaun umschlossen waren.
Er sei momentan etwas verwildert, aber mit ein bisschen Muskelschmalz würde „man“ das Kind schon schaukeln, prophezeite sie. Bis sie den kleinen Stall im Erdgeschoss entdeckte. Das Vorhandensein desselben brachte Mama auf eine verwegene Idee.
Statt sich die Hände mit Gartenarbeit schmutzig zu machen, sah sie unsere Zukunft in der Viehzucht. In der Umgebung wimmle es schliesslich nur so von reichen Bauern, und die hätten auch alle mal klein angefangen, erklärte sie.
Natürlich müsse man das Ganze überlegt angehen. Erst einmal würde man mit einer Kleinviehzucht Fuss fassen und dann nach und nach expandieren. Und wer weiss, vielleicht konnte man gar am Ende dick in den Viehhandel einsteigen und sich eine goldene Nase verdienen. Die Möglichkeiten waren nahezu grenzenlos.
Von unseren Rücklagen liess sich das leider nicht behaupten. Zwei Hasen mussten daher für den Anfang genügen. Am besten ein Männchen und ein Weibchen, entschied Mama, womit sie bereits die für dieses harte Geschäft notwendige Weitsicht bewies.
Bereits einen Tag später tauchte Papa mit zwei Hasen auf, die er einem