Taubenjahre. Franziska C. Dahmen
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Rafaels Kopf sank ermattet auf den unter ihm liegenden Leichnam.
Er schaffte es nicht. Er lag zu weit unten. Es mochten vielleicht gerade einmal zehn Zentimeter sein, die ihm fehlten. Zehn läppische Zentimeter, um nicht zu sagen eine Handbreit fehlten ihm, um sich mit einer Maus auf Augenhöhe zu befinden. Zehn läppische Zentimeter, die ihm schwarz auf weiß hätten bestätigen können, das er ein Mensch war.
Verbittert schloss Rafael die Augen, während er zugleich versuchte, seine rechte Hand zu bewegen. Aber es gelang ihm nicht. Kalios, der direkt neben ihm lag, hielt sie eisern umklammert. Doch während in seiner noch das warme Leben pulsierte, war Kalios Hand eiskalt und starr.
Ein Schauder durchfuhr Rafaels Körper.
Wie lange es wohl dauern mochte, bis auch sein Körper zu Eis erstarrt sein würde?, fragte er sich.
Egal! – Innerlich war er schon längst zu einem Eiszapfen mutiert. Und dabei war in seinem Leben einmal alles so hell, so warm, so voller Liebe, so voller Hanna gewesen. – Hanna! Seine wunderschöne, heißgeliebte Hanna. Sein Augenstern, seine Liebe.
Etwas weiter abseits stand ein Mann in SS-Uniform an einen Baum gelehnt und schaute voller Hass und Abscheu auf Rafael. Er wollte ihn Leiden sehen, so, wie er all die Jahre über gelitten hatte. Doch statt Schmerz und Leid entdeckte er ein Lächeln auf den Lippen des Sterbenden. Verbittert zog der Fremde an seiner Zigarette, während ihn seine Gedanken auf verborgenen Pfaden zu eben jener Hanna führten, der Rafaels letzte Atemzüge galten.
Mai 1930
Von den nahegelegenen Streuobstwiesen wehte ihm der süße Duft sich öffnender Apfelblüten entgegen. Tief sog er ihn ein und schloss dabei für ein paar Sekunden die Augen, während die ersten Sonnenstrahlen des Tages sein Gesicht wärmten. Das Brummen einer Hummel, die dicht an ihm vorbeiflog, gesellte sich zum rhythmischen Geklapper der Pferdehufe. Zusammen mit dem wohlvertrauten Rollen der Räder seines Wohnwagens bildeten sie eine höchst eigenwillige Melodie, die immer dann, wenn er auf dem holprigen Feldweg in ein Schlagloch eintauchte, einen Kontrapunkt erhielt. Rafael hätte vor Freude laut jauchzen können. Er war glücklich. Er liebte es, unterwegs zu sein. Die Räder seines Wagens waren seine Flügel der Fortbewegung. Schon drei Mal hatte er ein Flugzeug gesehen: Das erste Mal, da war er gerade in Frankreich unterwegs gewesen, einen Doppeldecker. Dann im letzten Jahr, genauer gesagt am 20. Oktober 1929, hatte er durch Zufall dem Jungfernflug des ersten Flugbootes der Dornierwerke beigewohnt. Dass er ein paar Wochen später den neuen Star der Zeppelinflotte zu sehen bekommen sollte, grenzte förmlich an ein Wunder. In seinen kühnsten Träumen hätte er das nicht erwartet. Aber direkt über seinen Kopf hinweg war die riesengroße, brummende Zigarrenhummel geflogen. Noch am gleichen Tag hatte er sich in Friedrichshafen eine Zehnerpostkarte mit echt Fotografien gekauft, die er seitdem wie einen Schatz hütete.
»Baunummer: LZ 127 (das 117. Zeppelin-Luftschiff). Eigentümer: Luftschiffbau Zeppelin GmbH, Friedrichshafen a. B. Hauptabmessungen: Nenn-Gasinhalt des Tragkörpers 105 000 cbm. Länge 236,6 m. Größter Durchmesser 30,5 m. Größte Höhe 33,7 m. Stromlinienkörper (Querschnitt: regelmäßiges 28-Eck)«, rezitierte er leise den umseitigen Text, ehe er lautstark singend mit seiner Lieblingsstelle fortfuhr: »530pferdige direkt gesteuerte Maybach-Motoren für Betrieb mit gasförmigen oder flüssigem Brennstoff.«
Seitdem stellte er sich jedes Mal 530 geflügelte Schimmel vor, die ihn in rasendem Galopp durch die Luft zogen. Was für ein Spaß! Natürlich war diese Vorstellung vollkommen abstrus, und er würde sich hüten, sie jemanden zu erzählen, aber hin und wieder der eigenen Phantasie freien Lauf zu lassen, schadete schließlich niemanden. Allein die Vorstellung, dass sein eigener Rappe hier auf Erden von 530 imaginären weißen Bundesgenossen begleitet wurde, beflügelte ihn und ließ ihn in Gedanken zu ungeahnten Höhenflügen aufsteigen. Höher und höher ging es, bis zu den Sternen, ja, bis zur Sonne hinauf.
Ganz kurz meinte er Popo zu hören, der ihm hinterherrief: »Denk an das Märchen vom fliegenden Prinzen, Rafael. Er flog zu hoch hinaus. Seine Flügel fingen Feuer, sodass er abstürzte!«
Aber im Gegensatz zu ihm, beruhigte Rafael sich, hatte dieser auch keine 531 galoppierenden Helfer gehabt, die mit einem als Zigarre getarnten Schiff durch die Luft segelten. Was zum Teufel sollte einem da schon passieren?
Rafael lachte aus vollem Herzen, bis ihn urplötzlich ein recht irdischer Stolperstein unsanft auf den harten Boden der Tatsachen zurück katapultierte.
Doch ein Absturz!, dachte er erstaunt. Was musste er auch an diesen griesgrämigen alten Kerl denken, der an allem und jedem etwas auszusetzen hatte und mit den schicksalsträchtigen Mule2 auf Du und Du stand? Natürlich mussten die ihm prompt einen Stolperstein in den Weg legen, über den er fuhr! Hatten die denn nichts Besseres zu tun? Immer mussten sie ihn ärgern!
»Dio!«, schimpfte er. »Setz mich in der Wüste aus. Fülle sie bis zum Rand mit feinstem Sand. Verstecke darin einen einzigen Stein, dessen Spitze herausschaut. Anschließend lass hundert Männer sie durchqueren. Garantiert werde ich der Einzige sein, der darüber stolpert.«
Verärgert sprang er vom Wagen und lief einmal um ihn herum, um sämtliche Räder zu kontrollieren. Verflixt und zugenäht! Er konnte froh sein, dass ihm dabei kein Rad oder gar die Deichsel zu Bruch gegangen war. Wütend über sich selber schüttelte er den Kopf und dachte mit leisem Bedauern daran, wie das Zigarrenschiff mitsamt seinen 530 Schimmeln die Wolkendecke durchbrach, während er sich hier auf Erden mit den Tücken des Alltags herumschlagen musste. Und was für Tücken! Rafaels Gesicht verdüsterte sich zusehends erneut, während er wieder auf den Bock kletterte. Vor knapp zwei Tagen war er Popo zum letzten Mal begegnet. Die ganze Familie hatte gerade am nahe gelegenen Fluss ihr Lager aufgeschlagen, als ein kleiner Trupp Landjäger sie dort aufspürte.
Ein Terrier in Uniform
Müde von der langen Reise und über und über mit Staub bedeckt, waren sie gerade im Begriff, ihr Nachtlager am Waldrand aufzuschlagen, als sie unvermittelt von einem rothaarigen Landjäger angebellt wurden: »He, ihr da … macht, dass ihr weiterkommt! Ihr dürft hier nicht kampieren!«
Rafaels Vater warf dem kleinwüchsigen Landjäger einen kurzen taxierenden Blick zu, widmete sich dann aber wieder in aller Ruhe seiner braunen Stute. Erst nachdem er zu guter Letzt das Zaumzeug an einem extra dafür am Wagen angebrachten Nagel aufgehangen hatte, schenkte er dem anfangs fassungslos, mittlerweile jedoch wütend dreinblickenden Landjäger seine Aufmerksamkeit.
»Guter Mann«, erklärte Rafaels Vater ihm derweil bedächtig, »wir haben kleine Kinder. Die sind müde. Der nächste Ort ist weit weg. Das dort befindliche Amt hat zu. Der Mann, der da arbeitet, ist nach Hause gegangen. Er ist bei seiner Familie. Seine Kinder liegen in ihren weichen Betten. Er aber hat sich in seinen Sessel gesetzt. Er raucht eine Zigarette. Er ist sehr Müde von all der Arbeit, die er heute hat machen müssen. Er will vergessen.«
»Ich werde mich auch gleich vergessen, wenn ihr nicht bald von hier abhaut!«, fiel ihm der Rothaarige brüllend ins Wort, und schleuderte im gleichen Atemzug sein Fahrrad in einen nahen Brombeerbusch, um sich, hochrot im Gesicht geworden, in einer drohenden Pose vor seinem Gegenüber aufbauen zu können.
Aber Rafaels Vater ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Gleichbleibend freundlich fuhr er fort: »Morgen Herr Landjäger …, morgen gehe ich aufs Amt. Jetzt hingegen werde ich dem für heute müde gewordenen Herrn Amtsvorsteher seine wohlverdiente Ruhe lassen. Morgen ist er frisch und munter, und dann werde ich ihn – so wahr