Taubenjahre. Franziska C. Dahmen
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Popo, der bis dahin das Ganze aus nächster Nähe beobachtet und zunehmend mit Sorge registriert hatte, wie sehr der rothaarige Landjäger sich in seine Wut hineinsteigerte, entschloss sich in das Geschehen einzugreifen und beförderte nach wenigen Sekunden ein weißes Papier aus seiner Brusttasche, das er der aufgebracht tänzelnden Terriernatur wortlos entgegenhielt.
»Was ist das?«, bellte diese ihn an.
»Genehmigung von unserem letzten Aufenthaltsort.«, antwortete Popo ihm in seiner tiefsten Erzählerstimme, die normalerweise jeden in der Lage war, zu besänftigen, nur in diesem Fall augenscheinlich kläglich versagte. Denn statt, dass die Terriernatur sich beruhigte, steigerte sie sich nur um so mehr in ihre Wut hinein und schlug Popo die Bescheinigung aus der Hand.
»Interessiert mich nicht!«, tobte sie indessen, schäumend vor Wut. »Von mir aus könnt ihr direkt wieder umkehren und dahin zurückfahren, oder noch besser: Schert euch dahin, wo der Pfeffer wächst!«
Rafaels Vater nickte verständnisvoll, was den Rotschopf, der insgeheim mit allem nur nicht mit Zustimmung gerechnet hatte, allmählich ins Stocken geraten ließ. Die Anzahl seiner hektischen Schritte, die sich auf ein Areal von wenigen Zentimetern beschränkte, verringerte sich zusehends. Schon meinte Rafael aufatmen zu können – wie es schien, war es seinem Vater gelungen, den Zündmechanismus dieser menschlichen Granate zu entschärfen –, als ausgerechnet Popo das hauchfein austarierte Gleichgewicht der Streitkräfte wieder ins Wanken brachte.
Besorgt, dass die auf dem Boden liegende Friedensfahne in Form von einer abgelaufenen Aufenthaltsgenehmigung davon geweht werden könnte, bückte Popo sich nach ihr und brachte damit die menschliche Granate zur Explosion.
»Ich habe dir«, brüllte der jähzornige Landjäger zwischen einzelnen Schlägen in Popos Ohr, »… nicht erlaubt, … dass du … den Wisch … aufheben darfst …«.
Viel weiter kam er nicht. Denn schon im nächsten Augenblick versuchte Rafael sich mit einem Hechtsprung auf ihn zu stürzen, landete aber dank einer unvorhergesehenen Drehung der beiden Männer auf Popo und begrub ihn stöhnend unter sich.
Dem Rotschopf war es gleich. Er war nicht wählerisch. Statt auf Popo drosch er jetzt blindlings vor Wut auf Rafael ein.
Schlag auf Schlag folgte bis einer der beiden Landjäger, die bis dahin eine Statistenrolle übernommen hatten, aus eben dieser erwachte und sich seiner erbarmte.
»Geh Franz … hör auf! Lass das arme Schwein in Ruh!«
Noch während er versuchte, den Arm des Tobenden festzuhalten, meinte er an Zlobek gewandt: »Und ihr schaut zu, dass ihr schleunigst von hier wegkommt, und zwar auf der Stelle, sonst kann ich für nichts mehr garantieren!«
Zlobek nickte nur und half dem immer noch benommenen 74jährigen Popo auf die Beine.
Gerade als Rafael sich selber mühsam aufzurichten versuchte, brüllte die eine Oktave im Ton höher gewordene Terriernatur lauthals: »Der da kommt mit!«, und wies dabei mit seinem Zeigefinger auf Rafael. »Der ist gemeingefährlich!«
»Franz, komm schon …!«, versuchte dieses Mal der andere Landjäger ihn zu beruhigen.
»Hast du gesehen, was der Schweinehund gemacht hat? Tätlich angegriffen hat er mich!«, dabei ruhte sein Blick hasserfüllt auf Rafael.
»Lass es gut sein Franz!«
»Der kommt mit, habe ich gesagt!«
Und so wurde Rafael an diesem Abend, begleitet von drei Landjägern, mit auf das nächste Polizeirevier geführt, wo man ihn fürs Erste in eine Zelle einsperrte, um ihn am nächsten Morgen verhören zu können.
Der Wagen ruckelte und riss Rafael für einen kurzen Moment aus seinen düsteren Erinnerungen heraus, ehe er wieder in sie abtauchte.
In ein kahles Zimmer hatten sie ihn geführt, wo alles seinen generalstabsmäßigen Verlauf nahm.
Ein hageres Wieselgesicht von Gendarm beschäftigte sich zunächst mit den Eckdaten seines statistischen Daseins und trug sie gewissenhaft in ein Formular ein, das von einem Reichsadler gekrönt wurde. Anschließend folgte das obligatorische Abnehmen der Fingerabdrücke in zweifacher Ausführung. Schöne, kleine, fein gezeichnete Fingerlabyrinthe auf weißem Papier, die jedes für sich genommen, von einem ebenso feinen, kleinen, schwarzen Kästchen umrahmt wurden.
Kaum hatte er auf dem Papier sein letztes Fingerlabyrinth hinterlassen, empfing es auch schon seine nächst höhere Weihe: Zunächst wurde ihm ein offizielles Aktenzeichen verliehen, welches auf einer wohlkalkulierten Mischung aus arabischen und römischen Zahlen basierte. Kaum vollbracht, folgte die amtliche Bestätigung einer amtlichen Bestätigung in Form von zwei zusätzlichen Stempeln. Fasziniert schaute Rafael zu, wie sich der rund gerahmte Reichsadler einerseits sowie der in Lettern gebannte Name des horizontal unterstrichenen zuständigen Polizeireviers andererseits zu seinen separiert kasernierten Fingerlabyrinthen gesellte. Aber erst mit der Unterschrift des Beamten wurde das Papier zu einem staatlich sanktionierten, papiernen Beleg seiner physischen Existenz. Akkurat in einer Akte abgeheftet, verschwand es in den tiefen Tiefen der bürokratischen Verwaltung, wo es seiner weiteren ominösen Bestimmung harrte.
Rafael runzelte die Stirn. Auch in seinem Wagen befand sich ein solches Papier. Zumindest ein recht ähnliches. Zusammen mit seinem Ausweis hatte sein Vater es einen Tag später dem Wieselgesicht überreicht, sodass er das Revier hatte verlassen können. Auf jeden Fall nannte sich dieses Dokument Bescheinigung. Geschmückt wurde es – wie sollte es anders sein – von seinen Fingerlabyrinthen, die mittlerweile inflationär auftauchten. Zusammen mit einem Lichtbild sowie einer exakten Beschreibung besonderer Kennzeichen – er besaß einzig und allein am rechten Fuß einen kleinen Zeh, der sich dank eines Pferdetritts zu weit nach außen wölbte, was wiederum seinerzeit einen Amtsarzt dazu bewogen hatte, selbige Krümmung in den Status einer dokumentarischer Relevanz zu erheben – sollte so in Kombination mit seinem Personalausweis von jedem Außenstehenden jederzeit seine physische Existenz objektiv überprüft werden können.
Rafael biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Ein abstehender kleiner Zeh, der sich bei einer verbrieften Länge von 4,3 Zentimeter um 7,2 Grad zu weit nach außen wölbte sowie 10 Fingerlabyrinthe wurden als Garanten seiner Existenz angesehen – einfach lächerlich!
Rafael schüttelte den Kopf. Den Zeh durfte er unreproduziert weiter mit sich herumtragen. Die 10 Fingerlabyrinthe wurden hingegen – sofern er richtig informiert war – in Zweitanfertigung an eine in München sitzende arme Kreatur geschickt, die förmlich unter einem Berg an Fingerabdrücken ertrinken musste. Armes Schwein!, dachte er. Aber vielleicht schwamm der arme Kerl sich frei, indem er Abdruck für Abdruck aus seiner schwarz umrandeten Rahmung herausschnitt und auf eine Tapete klebte. In München hatte er einmal in einem Geschäft so eine Tapete gesehen. Gut, die goldfarbenen Kringel auf blass-blauem Grund hatten etwas anders ausgesehen, aber eine gewisse Ähnlichkeit mit seinen Fingerlabyrinthen war durchaus vorhanden gewesen. Vielleicht hatte der Mann sich davon inspirieren lassen und verkaufte sie jetzt an irgendwelche höheren Beamten, die ihre Amtsstuben damit schmückten? Andererseits hatte er noch nie eine tapezierte Amtsstube zu Gesicht bekommen. Sie waren immer in diesem abscheulichen Amtsstubenkalkweiß gestrichen und dünsteten eine derart nüchterne Kälte aus, dass ihm allein bei dem Gedanken daran schauderte.
Vielleicht durften Amtstuben gar nicht tapeziert werden? Die Gefahr, dass sich die Gedanken ihrer Bewohner in den schmalen Gängen winziger Fingerlabyrinthe verirrten, war mit Sicherheit