Wenn Luftschlösser flügge werden. Marie Lu Pera
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„Seht, wer gerade Adams Hausaufgaben vorbeigebracht hat“, zieht sie die Aufmerksamkeit vom Essen auf mich ab.
Im nächsten Moment erspähe ich auch Adam – zumindest seinen Wuschellocken-Hinterkopf – den ich zuvor wohl übersehen hatte, denn er sitzt abseits am Kopf der langen Tafel, einige Meter von der anderen Seite entfernt, wo seine Familie sitzt.
Sekundenlang kann ich nur auf seinen Rücken starren. Er sitzt im Rollstuhl, was mich grad absolut fertig macht.
„Fröhliches Thanksgiving“, wünsche ich, nachdem ich den Blick von Adam losreißen konnte, was ein bisschen gedauert hat. Adam reagiert nicht.
Stattdessen schießt Mister Laurren hoch und begrüßt mich händeschüttelnd. Mann, hat er etwa Angst, ich verklage sie, weil sie mich nach Adams Unfall im Krankenhaus fertiggemacht haben? Nein, unwahrscheinlich, denn er hat gerade meinen nackten, großen Zeh bestaunt, der aus meiner linken Socke ragt. Das räumt sicher jeden seiner Zweifel aus, dass ich mir einen Anwalt leisten könnte – zumindest nicht in diesem Leben.
Adams Bruder Richard begrüßt mich als nächstes. Seine Freundin, die er als Anne vorstellt, nickt nur unterkühlt. Auch sie geht auf meine Schule, ist aber in einer der höheren Klassen. Ich wusste gar nicht, dass die zwei zusammen sind.
Misses Laurren bietet mir einen Platz gegenüber von Anne an. Etwas zögerlich mache ich mich auf den Weg – vorbei an Adam, der seinen Kopf die ganze Zeit über tief hängen lässt, sodass sein Kinn fast seine Brust berührt. Vor ihm steht ein unangetasteter Teller mit Essen.
Obwohl der Tisch sich unter den Köstlichkeiten, die aufgetürmt dastehen, förmlich biegt, sieht er abgemagert aus und seine Haut ist bleich wie die eines Vampirs. Man sieht ihm an, wie fertig er ist. Naja, ich weiß, dass er sechs Monate im Koma lag und nun augenscheinlich im Rollstuhl sitzt. Da würde sich jeder beschissen fühlen. Ob sein Kopf was abgekriegt hat?
„Hi, Adam“, grüße ich ihn, aber er reagiert nicht mal. Schlechtes Zeichen.
Seine Eltern werfen mir so einen entschuldigenden Blick zu und erklären: „Adam ist von der Hüfte an querschnittsgelähmt.“ Sofort zieht sich mein Magen krampfhaft zusammen und diesmal ist nicht das Hungergefühl daran schuld.
Man merkt, wie nahe es ihnen geht, das Offensichtliche auszusprechen. In ihren Gesichtern zeichnen sich Scham, Sorge und Probleme, das zu akzeptieren, was ihrem Sohn passiert ist, gleichermaßen ab. Was sie sich in dem Moment wohl fragen? Warum ist unserem Kind das passiert oder womit haben wir das verdient?
Okay. Jetzt reiß dich zusammen, Rose. Kopf hoch. Von der Hüfte an querschnittsgelähmt. Das heißt doch, er kann Oberkörper, Arme und Kopf bewegen. Oder? Naja, ich bin kein Arzt.
Zu gerne würde ich erfahren, ob er auch andere, bleibende Schäden davongetragen hat, worüber sie nicht sprechen, aber ich trau mich nicht, danach zu fragen. Was soll ich denn sagen? Ist er geistig behindert? Kapiert er, was um ihn herum abläuft? Braucht er eine Schnabeltasse und ein Lätzchen?
Stattdessen schweige ich einfach und ertrage diese beinahe erdrückende Stimmung, die sich ausbreitet und den ganzen Raum zu vereinnahmen scheint als würde ein eisiger Hauch der Klimaanlage herabrieseln. Ich tausche mit Richard Blicke aus, der unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her rutscht und sich räuspert. Er spürt die eisige Stimmung wohl auch. Kunststück. Ist ja kaum zu ertragen.
Gerade merke ich, wie unglaublich ähnlich er seiner Mutter sieht. Aber die Mandelaugen und die Locken haben ihre Söhne allesamt von ihrem Dad geerbt.
Der Butler schiebt mir einen leeren Teller unter die Nase. „Greif zu“, ist dann das Startsignal und ich lade ordentlich Essen auf.
„Wieso sitzt Adam im Abseits?“, will ich mit vollem Mund wissen, bevor mir auffällt, dass das ja eigentlich schlechte Manieren sind.
„Er möchte es so“, antwortet sein Vater. Aha, also kann sich Adam doch irgendwie bemerkbar machen und kommunizieren. Da ich keinen Sprachcomputer, Babyspielzeug oder Ähnliches an dem Rollstuhl entdecken kann, gehe ich mal davon aus, dass er keine Schnabeltasse braucht und okay ist. Ich sehe zu Adam rüber, der sich immer noch nicht vom Fleck gerührt hat.
„Adam Schatz, iss doch etwas“, säuselt seine Mum total verunsichert.
Er antwortet ihr nicht mal. Sie scheinen das einfach so hinzunehmen und tun so, als ob das nicht passiert wäre.
Das macht mich grad echt unsagbar wütend. Ich kralle mir eine Kartoffel von meinem Teller und feuere sie in seine Richtung ab. Sie trifft ihn am Kopf, den er anhebt und nachsieht, woher das Geschoss gekommen ist. Dabei sieht er mich nur total abschätzig an, was mir die Gänsehaut aufzieht. Sofort hab ich das Bild eines nackten Truthahnes im Kopf. So seh ich unter meinen Klamotten sicher auch aus. Nur mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass der Vogel sicher ein paar Kilo mehr auf den Rippen hat als ich – so groß ist das Teil.
Seinen Eltern steht der Mund offen.
Okay, Schluss jetzt mit der Schonkost. „Wollte nur nachprüfen, ob sein Gehirn auch was abbekommen hat“, verteidige ich mich schulterzuckend. „Ganz sicher bin ich noch nicht, aber er reagiert zumindest“, ergänze ich und lade meinen Teller abermals auf.
„Adam, probier doch den Truthahn, bevor er kalt wird“, versucht es seine Mum nochmals. Wieder reagiert er nicht, hat sogar erneut seine ursprüngliche Position eingenommen und starrt auf sein Essen.
„Hey, deine Mum hat dich was gefragt“, stelle ich nach ein paar Sekunden patzig fest. Wieder reagiert er nicht.
Wieder prallt eine Kartoffel aus meiner Richtung an ihm ab. Diesmal treffe ich ihn an der Schulter. Da er nicht reagiert, bombardiere ich ihn weiter mit Essen. Sogar vor Kartoffelbrei mache ich nicht Halt. Eine volle Ladung landet im nächsten Augenblick direkt in seinem Gesicht.
Aus dem Munde seiner Mum kommen nur zusammenhanglos gestammelte Wortfetzen „Also … das … das“, bevor sie sich für ein „Dulde ich nicht in meinem Hause“ entscheidet, das nur halb so energisch rübergekommen ist, wie sie es beabsichtigt hatte.
Adams Dad scheint fassungslos zu sein. Anne schnaubt empört: „Lass ihn in Ruhe. Siehst du denn nicht, dass er“ „Dass er was?“, falle ich ihr ins Wort, aber auch sie hat Hemmungen, es auszusprechen, also knallt sie nur ihre Serviette auf den Tisch und wendet sich voller Empörung Adams Eltern zu: „Schmeißt sie doch endlich raus.“ Tja, wundert mich auch, dass sie noch nicht den Sicherheitsdienst gerufen haben, um mich vor die Tür zu setzen. Liegt sicher an Thanksgiving – da haben wohl viele ihrer Angestellten frei und sie wollen sich nicht selbst die Finger schmutzig machen.
Richard hält sich die Hand vor den Mund, um seine Belustigung zu verbergen. Er ist wohl hier der Einzige bei Tisch, der versteht, was ich hiermit bezwecken will.
Mister Laurren reagiert mit einem „Würdest du jetzt damit aufhören, Rose“, was mich nicht davon abhält, eine Möhre zu werfen, die Adam am Ohr streift.
Adam hebt den Kopf und herrscht mich mit einem total bösartigen „Hör … auf … damit“ an, das auch einem dämonischen Grollen entsprungen sein könnte.
„Gut, das Sprachzentrum ist nicht betroffen“, erkläre ich und widme mich wieder meinem Essen.
Seine Mum krallt sich die Serviette von ihrem Schoß und springt förmlich hoch – jederzeit bereit, ihren Sohn sauberzumachen. Ganz so, als