Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

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Ehre, wem Ehre gebührt - Charlie Meyer

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der alten Gräfin zu entfliehen, indem sie Quentin folgte.

      Bekamen Witwen nach nur zweimonatiger Ehe Witwenrente? Eher wohl nicht. Ihr war, als habe sie etwas von einem Jahr gelesen. Na ja, zumindest blieb ihr das Arbeitslosengeld als Grundlage für einen Neuanfang. Nicht dass es ausreichen würde, sie hatte nur auf einer Zweidrittelstelle als Bibliothekarin gearbeitet, aber es schwächte zumindest ihre Existenzängste ab.

      Trotzdem: sie brauchte einen neuen Job, und das so schnell wie möglich.

      Vielleicht gehörst du zu den armen Irren, die den Tod magisch anziehen, dachte Bonnie deprimiert. Jeder, der in deinen Sog gerät, gibt den Löffel ab. Vater, Mutter, Oma, die Zwillinge und nun auch noch Quentin, dein Ehemann. Als Nächstes kommt dir wahrscheinlich Uschi im Bahnhof Zoo entgegengerannt, stolpert, stürzt auf die Gleise, und der nächstbeste ICE donnert über sie hinweg. Wahrscheinlich gibt es nur ein einziges Lebewesen im gesamten Sternenrund, das sich von dir nicht unter die Erde bringen lässt. Den alten Drachen, die Gräfin. Sie wird ewig leben, oder, falls sie doch irgendwann als älteste Frau des Universums stirbt, als Geist zurückkehren und allen Storkenburgs, den jetzigen wie den kommenden, gnadenlos im Nacken sitzen.

      Quentin war noch einmal nach Gut Lieberthal zurückgekehrt, damals im Juli, nachdem sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte. Das Aufgebot hing bereits im Kreuzberger Standesamt am Mehringdamm aus, als Quentin nach Hohenfurt fuhr, die Seinen vorzubereiten. Als er zwei Wochen später zur Trauung nach Berlin zurückkehrte, hatte sie gewissermaßen die Schotten schon dichtgemacht. Die Wohnung aufgelöst, die Stelle gekündigt, sich von ihren Freunden verabschiedet, die Koffer gepackt und das große goldene Märchenbuch ihrer Zukunft auf Seite eins aufgeschlagen. Erst kurz vor ihrer Ankunft in Hohenfurt, sechs Stunden nach der eher nüchternen Trauung, gestand ihr Quentin mit seinem liebenswertesten Jungenlächeln, das er ein wenig geflunkert habe. Denn eigentlich wisse in Hohenfurt gar niemand von seiner Verehelichung. Der Schock über seine Lüge hielt auch noch an, nachdem er ihr seine Gründe dargelegt hatte.

      Es ging dabei um die Schonung seiner Großtante Mina. Sie sei fünfundachtzig, gesundheitlich angeschlagen und viel zu gebrechlich, um zu einer Hochzeit nach Berlin zu reisen. Aber wenn sie wüsste, dass ihr Lieblingsneffe heiratete, dann würde sie sich eben derart grämen, nicht dabei sei zu dürfen, dass ihr ohnehin schon angegriffenes Herz weiteren Schaden nehmen könne. Er habe ihr die Enttäuschung ersparen wollen, und darüber hinaus seinen Cousin nebst Familie nicht eingeweiht, damit sich die arme Großtante Mina nicht später als Einzige hintergangen fühle. Wo er doch ihr Lieblingsneffe sei.

      Was für eine hanebüchene Lüge, die eine wie die andere! Doch zu dem Zeitpunkt, frisch verheiratet und bis über beide Ohren verliebt, schluckte Bonnie sie und machte sich erst später klar, dass Quentin mit keinem Wort erklärt hatte, warum er eigentlich sie, seine angetraute Ehefrau, ebenfalls belogen habe.

      Die Wahrheit sah wohl eher so aus, dass er Auseinandersetzungen gern aus dem Weg ging. Zu Hause aus Furcht vor der spitzen Zunge seiner Großtante, im fremden Berlin aus Angst vor einem ersten Ehekrach. Sie lernte ziemlich schnell, dass er mit Vorliebe den Weg des geringsten Widerstandes wählte, die Leute dann jedoch vor vollendete Tatsachen stellte und lächelnd die Schelte kassierte. Nicht einmal die Behauptung mit dem Lieblingsneffen stimmte. Seit Bonnie auf dem Gut weilte, hatte Gräfin Wilhelmina Quentin die kalte Schulter gezeigt und liebte es, ihn ihr gegenüber als Trottel zu bezeichnen. Sollte er jemals ihr Lieblingsneffe - oder besser Lieblingsgroßneffe - gewesen sein, dann lag diese Liebe wohl schon ein paar Jahre zurück. Bonnie wurde das Gefühl nicht los, dass die Verächtlichkeit der Gräfin Quentin gegenüber nichts mit seiner Mesalliance zu tun hatte. Oder nur wenig. Ihre Wurzeln mussten irgendwo tiefer liegen, das spürte sie ganz deutlich.

      Ein Schwan flog über das Wasser und folgte eine ganze Weile den Windungen des Flusses. Es tropfte aus seinem Gefieder, und die Sonne verwandelte die Tropfen für kurze Zeit in funkelnde Diamanten, bevor sie auf der braunen Brühe des Flusses aufschlugen.

      Sie schaute auf ihre Armbanduhr - Viertel vor acht. Noch ein paar Mal tief durchatmen, die Tränen runterschlucken und dann zurück in die Hölle. Die Beileidsbekundungen der Verwandten entgegennehmen, falls denn welche auftauchten, was seit ihrer Anwesenheit noch nicht passiert war, und sich den stechenden Augen der Gräfin stellen. Mit ihr zusammen die Formalitäten des Begräbnisses regeln. In die Stadt fahren und beim Bestatter vorsprechen. Einen Sarg aussuchen. Einen Sarg für Quentin mit seinen kornblumenblauen Augen, die er niemals wieder öffnen würde. Ein Spitzenkissen für seinen zerschmetterten Kopf auswählen. Von ihm Abschied nehmen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Wollte sie das wirklich? Mit dieser Schreckschraube im Rücken, die ihr noch schnell ein Taschentuch zusteckte, damit sie nicht schnüffelte? Unter Leonards verächtlichen Blicken zusammenbrechen und sich schluchzend über den Toten werfen? Wollte sie wirklich von ihm wie ein triefender Mehlsack zum Auto zurückgeschleppt werden? Sie konnte schon die kalte Stimme der Gräfin dem Bestatter gegenüber hören: »Ich muss mich für die fehlende Contenance der Witwe entschuldigen. Mir scheint, das Proletariat neigt in derartigen Fällen zu übertriebener Melodramatik.« Es war ihr schon das eine oder andere Mal durch den Kopf gegangen, ob sie sich mit ihrer Verehelichung vielleicht in eine dieser bemitleidenswert tragischen Romanfiguren von Courths-Mahler verwandelt hatte. Armes, unbedarftes bürgerliches Ding heiratet reichen Erben und wird gnadenlos schikaniert. Nur gab es auf Gut Liebenthal nicht einmal den Anflug von Reichtum, man schlug sich mehr schlecht als recht durch den Alltag.

      Sie stand von ihrem Baumstumpf auf und starrte auf die Trauerweiden am jenseitigen Ufer. Nein, sie glaubte nicht, ihren toten Mann ein zweites Mal sehen zu wollen. Das erste Mal, erschlagen und blutig im Stroh, reichte für den Rest ihres Lebens. Sie hatte nie zuvor dem Antlitz des Todes gegenübergestanden und seine unverhohlene Brutalität hatte ihr den Atem geraubt. Sie wollte nur noch eins. Das Bild ihres toten Ehemanns im Stroh gegen das eines lebenden und lachenden Quentin austauschen. Sie wollte ihn sich vorstellen, wie er ihr bei einem Glas Wein gegenübersaß und wie er vor Lachen kaum ein Wort über die Lippen bekam. Wie er mit verwuschelten Haaren und einem schlaftrunkenen Lächeln auf den Lippen neben ihr aufwachte. Wie er mit der Rose zwischen den Zähnen vor ihr kniete und die magischen Worte sprechen: Ich, Quentinius Albertus Baron von Storkenburg bitte dich Bonita Alvarez ....

      Nein, sein Kopf war nicht zerschmettert, er lag in keinem Sarg. Er war nicht tot. O nein, sie würde nicht zulassen, dass weder der Quentin im Stroh noch dieser geschminkte Klon im Sarg den lebenden verdrängte.

      Die Nebelschwaden über dem Wasser hatten sich jetzt vollständig aufgelöst, und hinter den Trauerweiden am anderen Flussufer schien in der klaren Luft der Berg ganz nah. Die Spitzen der Fichten oben auf der Kuppe wirkten gegen den noch weißlichen Himmel wie die Zähne eines Sägeblattes. Dort oben, wo die Raubritter derer von Weißenstein hinter den dicken Zinnen ihrer Burg auf Schiffe gelauert hatten, die den Fluss hinuntergetrieben kamen, damals im Mittelalter. Quentin hatte es ihr erzählt. Kam eins, rissen sie an einem Seil, das vom Berg herunter quer über den Fluss bis zu einem hölzernen Turm hinter dem Herrenhaus derer von Storkenburg auf Gut Lieberthal gespannt war. Im Turm bimmelte die Alarmglocke, und vom Gut stürzten bewaffnete Ritter und Knappen zum Fluss hinunter und in die Kähne. Wer von den Schiffern nur seine Waren und nicht auch das Leben verlor, wagte sich kein zweites Mal zwischen Gut und Burg hindurch. Auch auf Gut Lieberthal hausten demnach damals nicht die edlen Ritter heroischer Sagen, sondern schnöde Banditen, die sich ihre Fress- und Saufgelage mit Überfällen finanzierten.

      Die Weißenstein’sche Burg gegenüber war längst von den napoleonischen Truppen geschleift. Ebenso wie die Hohenfurter Befestigungsanlagen. Obgleich Hohenfurt beim ersten Anblick einer französischen Uniform hastig kapitulierte und toter Mann spielte, ließ Napoleon ebenso hastig alles dem Erdboden gleichmachen, hinter dem sich die Hohenfurter verschanzen könnten, falls sie jemals ihren Mut wiederfänden: Mauern, das Fort auf dem nahe gelegenen Kaninchenberg, Stadttürme und sogar die alte Garnisonskirche am Stadtrand. Nur die Wälle, die erdenen Fundamente der geschleiften Stadtmauern, überdauerten die Jahrhunderte. Heute umkreisten auf ihnen Touristen

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