Kinder erzieht man nicht so nebenbei. Wilma Burk
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Schweigend, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, fuhren wir vom Bahnhof aus mit unserem ersten Auto, einem VW-Käfer, durch die Straßen Berlins nach Hause. Wir wohnten am Rande der Stadt, in einem der dort neu errichteten Wohnblöcke. Noch waren wir von Feldern umgeben bis zur nahen Grenze der DDR, Dahinter begann die Mark Brandenburg.
Ich weiß noch, wie wehmütig mir bei dieser Heimfahrt zumute war. Wenn Mama wirklich in Hannover blieb - was Konrad vermutete -, so wäre nur noch ich allein als Einzige aus unserer Familie in Berlin. Vorbei die Zeit, in der es früher sonntags lebhaft in unserem kleinen Schrebergarten zuging, wenn Mama und Papa mit meinem Bruder Bruno und meiner Schwester Traudel zu uns kamen und sich in unsere Runde unter dem alten Kirschbaum noch Helmut Bruns, Konrads Freund aus Kriegstagen, dazugesellte.
„Bist du traurig?“, holte mich Konrad aus meinen Gedanken heraus, als wir unsere Wohnung fast erreicht hatten.
„Nein, nein!“, beeilte ich mich zu versichern. Aber ich wurde den traurigen Gedanken nicht los, wie schön es jetzt wäre, wenn wir wenigstens Kinder hätten. Vielleicht würde ich es dann nicht so empfinden, als wäre ich hier in West-Berlin übrig geblieben. Doch wir werden ja kinderlos bleiben. Das hatte mir zur traurigen Gewissheit werden müssen. Traudel war es, die Mama ihre geliebten Enkelkinder beschert hatte.
*
Traudel hatte schon früher als Kind ihren eigenen Kopf gehabt. Als Nesthäkchen von uns drei Geschwistern verstand sie es, viel mehr durchzusetzen als mein jüngerer Bruder Bruno oder ich. Sie konnte mit trotziger Bewegung zuerst ihre roten Zöpfe, später ihre üppige rote Haarfülle, so in den Nacken werfen, dass man lachen musste. Eben noch bockig, verstand sie es, bald darauf zu schnurren wie eine Katze, wenn sie etwas erreichen wollte. Damit hatte sie besonders bei Papa Erfolg.
Als sie gerade siebzehn Jahre alt war, wusste sie bereits, dass sie ihren Karl-Heinz heiraten würde.
Karl-Heinz Roth war ein junger Mann aus unserer Laubenkolonie am Rande der Stadt, acht Jahre älter als Traudel. Mama hatte sich bald Sorgen um diesen Altersunterschied gemacht. „Der will doch nicht mehr nur Händchen halten“, hatte sie gesagt. Am liebsten hätte sie da ihr erst sechzehn Jahre altes Nesthäkchen von ihm ferngehalten.
Doch Traudel interessierte sich für keinen anderen Jungen, nur für ihren Karl-Heinz. Alle Einwände, alle Bedenken von Papa oder irgendjemand anderem konnten sie nicht umstimmen. Eines Tages machte sie Papa klar, dass sie nicht studieren werde, so wie er es erhofft hatte. Dabei war es doch für ihn schon eine Enttäuschung gewesen, als unser Bruder Bruno vorzeitig von der Schule ohne Abitur abgegangen war. Das Abitur aber wollte Traudel wenigstens noch machen, so versprach sie. Doch dann würde sie sofort Karl-Heinz heiraten und mit ihm nach Hannover gehen.
Traudel war das letzte Kind von Mama und Papa, welches das Elternhaus verlassen wollte. Ich, die Älteste, hatte ein paar Jahre vorher geheiratet und danach war unser Bruder Bruno nach Australien ausgewandert. Das hatte Mama und Papa sehr getroffen. Nun schmerzte es sie besonders, dass auch Traudel, ihr Küken, nicht in Berlin bleiben würde.
„Aber sie bleibt doch in Deutschland“, versuchte ich Mama zu trösten, als 1955 der Tag von Traudels Hochzeit näher kam.
„Und wenn schon!“, entgegnete sie traurig. „Sie ist dann aber so weit weg von uns.“
Karl-Heinz Roth war Kfz-Meister. Er sollte die Autowerkstatt eines kinderlosen und verwitweten Onkels bei Hannover übernehmen.
„Bestimmt kann ich in dem Betrieb mitarbeiten“, nahm sich Traudel vor und himmelte ihren Karl-Heinz an.
„Sobald du aber Kinder hast, hörst du doch damit auf?“, fragte Mama erschrocken. „Das kennt man ja, wenn eine Frau in einem selbständigen Betrieb erst einmal mitarbeitet, wird sie immer gebraucht. Doch die Kinder benötigen die Mutter schließlich auch.“
Traudel lachte und warf ihre rote Haarfülle in den Nacken, wobei ihre grünlich schimmernden Augen herausfordernd blitzten. „Wer denkt denn gleich an Kinder. Das hat Zeit! Warum sollten die sofort kommen. Und überhaupt! Warum soll ich mit der Arbeit im Betrieb dann aufhören? Heute ist das anders als bei dir, Mama! Heute begnügt man sich als Frau nicht mehr mit Haushalt und Kindererziehung.“
„Begnügt? Wie sich das anhört! Weißt du überhaupt, wie viel Arbeit so ein Haushalt macht?“ Dass ein Mädchen einen Beruf erlernte, fand Mama richtig, sogar, dass sie studieren wollte, aber alles sollte nur gelten, bis eine Frau heiratet und Kinder bekommt. So sah sie das!
Doch Traudel war überzeugt davon, ihre Aufgabe würde der Betrieb sein, den Karl-Heinz einmal von seinem Onkel Oskar übernehmen sollte.
„Wie willst du das schaffen, ohne Ausbildung in irgendeinem Beruf?“, wunderte sich Papa.
„Das wird sich finden. Wenn ich erst einmal sehe, was dazu nötig ist, kann ich mich darin bestimmt schulen lassen“, antwortete Traudel unbekümmert.
„Na, hoffentlich irrt sie sich nicht“, meinte Konrad dazu, der als Leiter einer kaufmännischen Abteilung in einer Firma in West-Berlin tätig war.
„Du kennst Traudel noch nicht gut genug. Sie hat einen eisernen Willen, wenn sie etwas will“, erklärte ich.
„Katrina, immerhin sind wir seit fast sieben Jahren verheiratet. In dieser Zeit habe ich sie schon ein bisschen kennenlernen können. Bei uns im Betrieb würde sie sich wundern, wenn sie so einfach ohne Vorbildung einsteigen wollte.“
„Das ist ja auch eine größere Firma. Hier aber handelt es sich um einen kleinen Familienbetrieb. Ich denke, dass sie es schafft“, behauptete ich.
Da lachte Konrad. „Ihr Frauen! Jetzt genügt euch noch immer nicht, was ihr an Gleichberechtigung erreicht habt, jetzt wollt ihr schon ganze Betriebe übernehmen. Ich sehe Traudel bereits als Chefin eines großen Autosalons“, höhnte er.
„Wart 's ab!“, sagte ich nur.
1. Kapitel - 1955
Die Teilung Berlins und die Schwierigkeiten, mit denen die Sowjetunion und die Führung der DDR West-Berlin seit Jahren bedrängten, setzten sich fort. Aber die drei Westmächte, Amerika, England und Frankreich, beharrten darauf, in ihren drei Westsektoren der Stadt präsent zu sein. Sie beriefen sich auf den Viermächte-Status der Stadt, den die vier Siegermächte bei Kriegsende miteinander ausgehandelt und vereinbart hatten, und sie protestierten heftig, wenn die UdSSR dagegen verstieß oder von der SED-Regierung in Ost-Berlin eigenmächtige Handlungen zuließ. Längst waren aus einer ehemals einheitlichen Stadt zwei einander fremde Städte geworden, obgleich man noch von der einen in die andere gelangen konnte. Nur das Umland von Berlin war weder für West-Berliner noch für Bundesbürger frei zugänglich, seit die DDR 1952 mit Straßensperren ganz Berlin abgeriegelt und nur einige Übergänge in Ost-Berlin freigelassen hatte. Noch scheuten sie sich, Ost-Berlin gegen West-Berlin genauso abzuriegeln, denn noch versuchten sie, so manche Forderung mit dem Viermächte-Status der Siegermächte für die Stadt zu begründen. Um eben diesen Status von Berlin gab es immer wieder Spannungen und Streit zwischen Ost und West. Jeder berief sich darauf und jeder legte ihn anders aus.
Die Bundesrepublik erreichte man von West-Berlin aus über Transitwege durch die DDR, mit Interzonenzügen oder durch die Luftkorridore der Westmächte, die aber nur von alliierten Flugzeugen benutzt