Marsjahr. Sven Hauth
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Deshalb hatte Ale das Ende der Sommerferien herbeigesehnt. Der Schulanfang würde alles ändern – sie würde neue Freunde finden, aufregende Dinge erleben, auf Parties gehen, Spaß haben. Am letzten Ferientag konnte sie vor Aufregung kaum einschlafen.
Natürlich hatte Rachel vergessen, den Wecker zu stellen. Fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn bogen sie in ihrem Cabrio auf den Schülerparkplatz der Apollo High School, ein schmuckloser Klotz aus drei Schichten Ziegel und Beton.
Zeit, ihre Bücher in den Spind einzuräumen, blieb Ale keine. Im Laufschritt näherte sie sich ihrer allerersten Schulstunde an der Apollo. Obwohl sie genau wusste, was auf dem Programm stand, warf sie einen erneuten Blick auf ihren Stundenplan und schickte gleichzeitig ein Stoßgebet zum Himmel, irgendeine göttliche Fügung möge diesen kurzfristig ändern. Ihr Gebet blieb ungehört. Im ersten Fach der Dienstagsspalte stand unverrückbar: Grundkurs Sport. Ausgerechnet. Nicht amerikanische Geschichte. Nicht englische Literatur. Selbst Mathe wäre okay gewesen, aber Sport? Ale konnte keine hundert Meter laufen, ohne Seitenstiche zu bekommen. Bälle fing sie so schlecht wie sie sie warf, Schwimmen hatte sie nie gelernt, und beim Turnen gelang ihr nicht einmal eine gerade Rolle vorwärts. Sie hatte sich mit ihrem fehlenden Bewegungstalent abgefunden und in ihrer Heimatschule Sport nach der fünften Klasse abgewählt. Nun begegnete sie ihrem Hassfach erneut, denn in diesem Land besaß Sport einen anderen Stellenwert und war Pflichtfach.
Ale drehte den Stundenplan um und studierte die Karte, die Rachel ihr aufgemalt hatte. Wo verdammt war die Turnhalle?
Verloren geisterte Ale durch die Flure. Egal, um welche Ecke sie bog, überall sah es gleich aus. Fenster gab es keine, dafür uringelbe Kacheln und dieses grässliche Neonlicht, das die Gesichter auf den Gängen noch fremder aussehen ließ. Als sie zum dritten Mal an derselben Spindreihe vorbeikam, gab Ale auf, schnappte sich eines der Neongesichter und fragte nach dem Weg.
Kurze Zeit später jagte eine übergewichtige Lehrerin sie mit Kasernentonkommandos durch ein Zirkeltraining das für irgendeine besonders schlagkräftige Spezialeinheit der amerikanischen Streitkräfte entwickelt worden sein musste. Jeder Gesprächsversuch mit Leidensgenossen erstickte im Kreischen der Trillerpfeife. Am Ende der Sportstunde konnte man mit Ale den Hallenboden aufwischen.
Obwohl sie bereits am Boden lag, trat das Schicksal noch einmal nach. Irgendwo auf dem Weg zurück von der Umkleidekabine musste sie ihr Medaillon mit dem heiligen Christophorus verloren haben. Ales Mutter hatte es ihr zum Abschied auf dem Flugplatz umgehängt, mit dem Versprechen, dass es sie auf ihrer langen Reise beschützen würde.
Ale hielt sich nicht für besonders abergläubisch, aber der frühe Verlust ihres Schutzpatrons konnte nur ein böses Omen sein. Sie spürte einen schmerzhaften Stich von saudades, eine quälende Sehnsucht nach ihrem Zuhause. Das Medaillon bedeutete ihr eine Menge. Es war ein kleines Stück Heimat fern der Heimat gewesen. Die Vorstellung, dass es nun unter irgendeinem amerikanischen Turnschuh klebte, machte sie wütend und traurig.
Ale seufzte. Vielleicht urteilte sie vorschnell über das fremde Land und durchlebte gerade den Kulturschock, vor dem sie die Vermittlungsagentur gewarnt hatte. Sie blieb stehen und starrte auf Rachels Lageplan wie eine ratlose Schatzsucherin, während um sie herum alle Schüler zielstrebig ihres Weges gingen. Ein dickes Kreuz markierte die Position des ihr zugeteilten Schließfachs. Wenn sie die Kritzeleien ihrer Gastschwester korrekt interpretierte, befand es sich am Ende des Gangs.
Außer Atem erreichte Ale ihren Spind und ließ schweißnasses Turnzeug und Bücher zu Boden fallen. Gerade frisch geduscht, war sie bereits wieder völlig durchgeschwitzt. Mit feuchten Fingern fischte sie aus ihrer Jeans den kleinen Zettel mit der Zahlenkombination, die den Spind öffnen sollte. Wie man es ihr am Orientierungstag vorgeführt hatte, drehte sie das Rädchen erst nach rechts bis zur Dreizehn, dann zurück auf die Neun und wieder im Uhrzeigersinn zur Sechzehn. Sie zog an der Verriegelung - nichts. Sie prüfte die Kombination und wiederholte die Prozedur, ohne Erfolg. So sehr sie auch zog und ruckelte, die Tür weigerte sich beharrlich, aufzugehen.
Ale sah sich um. Schräg gegenüber kaute ein feister Typ kuhgleich auf seinem Kaugummi und redete gleichzeitig auf eine abgemagerte Gestalt ein, die aus unerfindlichen Gründen einen knallroten Helm trug. Von den beiden Clowns war sicher keine Hilfe zu erwarten. Alle anderen Schüler eilten mit Scheuklappen an ihr vorbei.
Ale seufzte ein zweites Mal, ließ sich gegen die widerborstige Spindtür fallen und verfluchte sämtliche Länder nördlich des Äquators. Schweißtropfen rannen ihr über die Stirn und ihre Kehle brannte vor Trockenheit. Zum Glück war nur wenige Schritte neben ihrem Spind ein Trinkbrunnen an der Wand angebracht. Vielleicht hatte Fortuna endlich ein Einsehen mit ihr.
-
"Was gab's zum Auftakt?", fragte Mark, während er das Innere seines neuen Senior-Spinds mit Fotos dekorierte, die wahlweise kurvige Frauen, Sportwagen, oder kurvige Frauen auf Sportwagen zeigten.
"Chemie", sagte Paul.
"Und, wie war's?"
"Derselbe Scheiß, anderes Jahr."
"Du sagst es, Mann!", lachte Mark und füllte die letzte Lücke mit einer Autogrammkarte von Pamela Anderson. Stolz trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk.
"Was meinst du? Komme ich damit durch das Jahr?"
Paul verdrehte die Augen, öffnete seinen Spind und warf das Chemiebuch auf das oberste Regal. Die Innenseite seiner Tür präsentierte sich im unbeklebten Beige. Vielleicht sollte er das mit ein paar Skateboardstickern ändern?
Beim Anblick des jungfräulichen Blechs warf Mark ihm einen mitleidigen Blick zu und ließ eine Kaugummiblase platzen.
"Dein Spind ist nackter als ein Pavianarsch. Hier, nimm eine von meinen." Er reichte Paul das zerfranste Foto eines nicht mehr ganz frischen Bikinimodells.
"Ich bekomme die Ausschussware? Vielen Dank."
"In der Not muss der Teufel Fliegen fressen."
"Wenn man vom Teufel spricht…"
Paul nickte den Gang hinab. In der Ferne waberte ein leuchtend roter Fleck inmitten der Schülerköpfe.
Special Ed galt an der Apollo als feste Institution. Als hätte sich ein sadistischer Schöpfer an ihm ausgetobt, vereinte er sämtliche Eigenschaften, die man niemandem wünschte. Er war zu klein und zu dünn geraten, seine Haut bis auf ein Minenfeld aus Muttermalen weiß wie Holzleim, die Zähne lückenhaft und schief, eulenhaft vergrößerte Augen hinter Flaschenbodengläsern, das Kinn auf der Flucht. Ed bewegte sich nie geradlinig, sondern mal schlüpfrig wie ein Aal, mal wie ein Spielzeugroboter mit schwächelnden Batterien. Auf dem Rücken trug er stets den gelben Rucksack mit den zwei reflektierenden Silberstreifen, zum Bersten gefüllt wie man es sonst nur bei den Obdachlosen auf der Main Street sah.
Und als Krönung dieser entwürdigende Kopfschutz, der ihm das Aussehen eines Anti-Superhelden verlieh. Nur ein einziges Mal hatte Paul Special Ed den Helm abnehmen sehen. Eds Ohren waren dabei in einem 90 Grad Winkel hervorgefloppt, was ihm eine frappierende Ähnlichkeit mit Alfred E. Neuman vom Mad Magazine verlieh.
Niemand kannte Special Eds richtigen Namen. Paul erinnerte sich noch gut an den Tag ihrer ersten Begegnung. Es war der Beginn ihres Sophomore-Jahres. Urplötzlich war Ed neben Mark aufgetaucht, wie von einem anderen Planeten herab gebeamt. Er stand nur da und grinste sein breites Ed-Grinsen.
Mark