Infiziert : Die ersten zehn Tage. Felix Fehder
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„So lass sie doch, Katharina – wenn sie es doch nicht mag“, beschwichtigte Papa.
„Es ist wichtig, dass du das ist.“ Mama blieb hart, wie immer. Am Ende würde Lea ihren Brokkoli essen.
Vor dem Fenster flackerte eine Laterne und ging dann ganz aus. Auf der Straße war es gespenstisch still. Aus dem Fernseher ertönte der vertraute Jingle der Abendnachrichten, gefolgt von dem Hinweis: „Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.“
„Ruhe, jetzt“, verlangte Papa.
„Infektionsgefahr. Die Behörden versichern alles zu tun, um die Lage schnellstmöglich wieder unter Kontrolle zu bekommen“, erzählte der Moderator im Fernsehen.
Alle starrten zum Fernseher.
„ ... Das Seuchengebiet wurde nach der letzten offiziellen Stellungnahme um die nördlichen Außenbezirke erweitert. … Alle Bürger werden dringend gebeten, ihre Häuser weiter nicht zu verlassen …“
„Nördliche Außenbezirke – es kommt auf uns zu“, flüsterte Mama.
„Psst,“ machte Vater.
„ … In anderen Städten des Landes wurden heute in frühen Abendstunden Vorkommnisse gemeldet, die möglicherweise in Zusammenhang mit infizierten Mitarbeitern des Konzerns stehen. Ein Junge soll auf einem Spielplatz in Frankfurt einem anderen Kind in den Hals gebissen haben. In der Nähe von Hamburg haben Wanderer ein vollständiges, menschliches Skelett auf einem Waldweg gefunden. „Niemand sollte nun in Panik geraten, wir haben die Situation unter Kontrolle und gehen jeder Spur nach“, äußerte sich der Leiter der Sondereinheit „Menschenhunger“ Christopher Steiner.“
Papa schlug mit Wucht auf den Tisch. Lea und Ferdinand zuckten zusammen.
„Das darf doch nicht wahr sein!“
„Was denn?“, erkundigte sich Ferdinand.
„Schon gut.“ Sein Vater winkte ab. „Nicht deine Sache. Für euch ist es nun Zeit fürs Bett.“
„Kein Nachtisch?“ Lea zog ein enttäuschtes Gesicht.
„Ich konnte heute leider nicht einkaufen, mein Schatz, aber vielleicht liest Dein Bruder Dir ja noch was vor.“
Lea blickte mit großen Kinderaugen zu ihrem Bruder, genau wissend, dass bei diesem Blick niemand „Nein“ zu ihr sagen könnte.
Ferdinand lächelte. Was sie nicht wusste war, dass ihm die abendliche Vorlesestunde fast ebenso gut gefiel wie ihr.
„Wenn es sein muss“, sagte er.
Die Geschwister putzten sich die Zähne und Lea legte sich in ihr Bett. Ferdinand setzte sich neben sie, nahm „Alice im Wunderland“ vom Nachttisch und begann zu lesen. Für ihre 9 Jahre war Lea eine sehr ausdauernde Zuhörerin. Von unten hörten sie Mama in der Küche hantieren. Wahrscheinlich füllte sie wieder irgendein Nahrungsmittel in Marmeladen- und Einmachgläser um. Auch das war eine ihrer neuen Beschäftigungen. Ständig füllte sie Gläser mit Zeug, trug sie in den Keller und stapelte sie sorgsam in den Regalen dort, die sich langsam immer weiter unter dem Gewicht durchbogen.
Auch Papa hatte viel zu tun. Er hatte begonnen, das ganze Grundstück mit einem hohen Lattenzaun zu umzäunen. Mehr als die Hälfte war bereits fertig.
Da seine Eltern so beschäftigt waren, hatte Ferdinand es sich zur Aufgabe gemacht, seine Schwester zu unterhalten. Sie sollte sich keine Sorgen machen, obwohl alle sich so seltsam verhielten. Also musste Ferdinand sie so gut es ging ablenken, damit sie ja nicht auf die Idee kam, Angst haben zu müssen. Seine kleine Schwester sollte niemals in ihrem Leben Angst haben müssen.
Ferdinand las und las. Irgendwann fielen ihm die Augen zu und das Buch klappte zusammen. Lea nahm es ihm vom Bauch und legte es auf den Nachttisch. Sie zog ihr Tagebuch aus der Schublade und schrieb einen Eintrag. Dann versteckte sie das Buch wieder, kuschelte sich an ihren Bruder und schlief mit einem zufriedenen Seufzer auf den Lippen ein. Den Gute-Nacht-Kuss, den Mama und Papa ihren Kindern noch brachten, bekamen die beiden schon nicht mehr mit.
LEAS TAGEBUCH
Ohne Schule ist das Leben schön. Ferdinand und ich durften nun schon den dritten Tag zu Hause bleiben. Das einzig Doofe ist, dass wir nicht raus dürfen und Mama und Papa mit uns keine Ausflüge machen wie sonst in den Ferien. Aber es sind ja auch keine richtigen Ferien, sonst würden wir sicher an die Nordsee fahren.
Ich darf auch meine Freunde nicht sehen. Susi hat mich heute angerufen, aber ihre Eltern lassen sie auch nicht mit anderen spielen. Immerhin habe ich Ferdinand. Susi hat keinen Bruder.
Langsam haben wir schon Langeweile. Auf Brettspiele hat Ferdinand keine Lust mehr, weil ich immer gewinne, Malen findet Ferdinand auch doof. Am schlimmsten langweile ich mich, wenn er an seinem Computer spielt. Bei Ferdinands Spielen muss man immer nur Monster abschießen und sowas und Mama sagt, ich darf dabei nicht zugucken.
Heute haben wir aber im Haus Verstecken gespielt. Ferdinand wollte, dass ich mich so gut irgendwo verstecke, dass er mich nicht findet. Ich habe mich im Bad unter die Sachen im Wäschekorb gelegt. Ferdinand hat sehr lange suchen müssen. Er sagt es sei wichtig, dass ich weiß wo ich mich verstecken kann. Aber hier sucht mich doch niemand außer ihm.
Mama und Papa gucken die ganze Zeit Nachrichten. Ich finde Nachrichten langweilig, aber sie sagen, die Kindersachen werden nicht mehr gezeigt. In den Nachrichten geht es immer um so eine Krankheit. Ich hoffe, ich stecke mich nicht an. Dann muss ich wieder zu Dr. Strahl und der tut mir immer weh, obwohl er jedes Mal wieder verspricht, dass es nicht wehtun wird.
Ferdinand meint, uns kann nichts passieren, wenn Mama und Papa das sagen. Ich glaube ihnen aber nicht so einfach. Wenn sie sich so komisch angucken, sind sie fast so wie Dr. Strahl, wenn er sagt „es tut nicht weh“. Und alle haben Angst. Heute war Herr Foster hier. Er und mein Vater wollen den Zaun an unseren Häusern besser machen. Herr Foster ist wie ein großer starker Bär und macht mir immer die Haare wuschelig. Heute wollte er aber nur mit Papa reden und war ganz zappelig. Er lief immer in der Küche vor Papa herum. Ich soll immer still am Tisch sitzen. Bestimmt muss Herr Foster auch sein Gemüse nicht essen.
Ich hasse es, dass Mama mich immer zwingt das eklige Gemüse zu essen. Das ist so glibberig. Ich wünschte, es würde eine Welt geben, in der es egal ist, ob Kinder ihr Gemüse essen.
Sie konnten noch nicht lange geschlafen haben, als Ferdinand durch ein Geräusch geweckt wurde. Er horchte. Es kam von unten. Jemand war an der Tür.
Schritte! Jetzt hörte er Schritte auf der Treppe.
„Wer ist da?“ hörte er Papa rufen.
Keine Antwort. Er lauschte so fest er konnte. Nichts. Dann hämmerte etwas dumpf gegen die Haustür. Ein lautes Stöhnen ertönte und er sah zu seiner Schwester hinüber.
Lea saß kerzengerader im Bett und starrte ihn entsetzt an.
„Was ist das?“