Die Kinder der Schiffbrüchigen. Jonas Nowotny

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Die Kinder der Schiffbrüchigen - Jonas Nowotny

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Lade nicht mehr Schuld auf mich, als ich tragen kann, Herr, und gib mir die Kraft, mich Catrin zu offenbaren. Catrin ist eine gute Mutter, eine gute Ehefrau, und sie hat es nicht verdient, dass ich sie ins Verderben ziehe. Herr, siehst du nicht meine Verzweiflung? Strafe sie nicht für Sünden, die ich begangen habe. Gib mir diese letzte Chance. Ich gelobe Besserung, Herr. Habe ich die beiden vergangenen Jahre nicht gezeigt, dass ich es besser kann? Habe ich nicht nach deinen Geboten gelebt? Gib mir die Möglichkeit, dir zu zeigen, wie ernst es mir ist. Bitte lass ein Wunder geschehen, Herr. Lass Gnade walten und eine Verwechslung vorliegen. Lass sich alles in Wohlgefallen auflösen. Du kannst es, Herr, denn du bist groß, und dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

       Kapitel 9

      Als Oliver erwachte, brauchte er einen Moment, bis er das summende Geräusch im Raum dem Beamer über seinem Kopf zuordnen konnte. Das Gerät warf noch immer ein Bild an die blanke Wand. Die Couch, auf der er eingeschlafen war, knarzte unter ihm, als er sich reckte. Sein Blick streifte das gerahmte Foto auf dem Beistelltisch. Es zeigte eine von Krankheit gezeichnete Frau. Durchsichtige Schläuche liefen über ihre spitz vorgetretenen Wangenknochen und trafen sich unter der dünn gewordenen Nase. Manchmal fragte Oliver sich, warum er gerade dieses Foto von ihr gerahmt hatte. Warum nicht eines, auf dem sie noch sich selbst glich? Die Fotografie zeigte ein bleiches und knochiges Tier – nicht seine Mutter. Mit dem wütenden Krebs im Körper hatte sie ihm endlich die Wahrheit erzählt und ihm den silbernen Talisman übergeben. Oliver fand, dass aus ihren Augen eine Mischung aus Angst und Erleichterung sprach.

      Die letzten Tage ihres Lebens hatte sie sich ihre Schuld von der Seele geredet. Ihre Angst, er habe bereits um die unrühmliche Familiengeschichte gewusst oder zumindest etwas geahnt, war völlig aus der Luft gegriffen. Bis zu dem Tag, an dem ihm ein Eintrag in ihrer Krankenakte verdächtig vorkam, hatte er in glückseliger Unwissenheit gelebt. Die im Nachhinein betrachtet recht deutlichen Andeutungen von Nachbarn und Familienangehörigen hatte er weggewischt, ohne sich über sie Gedanken zu machen. Den Zweifeln, die ihn während der Pubertät überfallen hatte, war er nicht nachgegangen. Mit jeder Minute ihrer Erzählung fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und das Gefühl, betrogen worden zu sein, wuchs. Es war, als lege jemanden einen Schalter in seinem Kopf um. Er fühlte sich nicht mehr wohl am Bett seiner kranken Mutter. In der Villa der Eltern würde er nicht wohnen bleiben können. Die Berichte seiner Mutter waren wie Evas Apfel gewesen: Zwar hatten sie ihm Erkenntnis beschert, ihn jedoch auch aus dem Paradies befördert ... Dachte er jetzt schon im Vokabular von Catrin? Seit Sonntag ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er seufzte und dachte zurück an das Verhör auf dem Präsidium. Auch wenn ihm die Beamten nicht abnahmen, dass er vor drei Tagen mehr oder weniger zufällig am Ort des Geschehens gewesen war, war er doch froh, nichts von den Familienhintergründen erzählt zu haben. Die zweite Speicherkarte, auf die er die Bilder der Thalberg-Feier kopiert hatte, verschwieg er ebenfalls.

      Der Notartermin heute Vormittag kam ihm in den Sinn. Dem Makler war es rekordverdächtig schnell gelungen, einen Käufer für die Villa zu finden. Sein Karteikasten sei voll mit Interessenten, hatte er gemeint. Oliver hatte ihn durchs Telefon schmunzeln gehört. Oliver streckte sich und erhob sich vom Sofa. Sein Blick schweifte durch die von der Polizei durchsuchte Wohnung. Er fragte sich noch immer, warum die Beamten wegen einer lächerlichen Rauchbombe so viel Aufsehens machten und sogar Wohnungen durchsuchten. Gut, es waren Menschenleben gefährdet worden, und die Reederei brauchte vermutlich einen Regresspflichtigen. Die Polizei hatte ganze Arbeit geleistet. Alle Schubladen standen offen und waren durchwühlt. Der Computer fehlte. Oliver rieb sich die Augen und schlurfte in Pantoffeln ins Bad, dem einzigen Raum der Wohnung mit Tür. Der Rest der Klause war offen. Sein neues Zuhause war das Gegenteil von der Wohnung, die er im zweiten Stockwerk der elterlichen Villa bewohnt hatte. Damals war alles dunkel gewesen: die Möbel, die tapezierten Wände, die Teppiche, die schweren Vorhänge, die das Tageslicht schluckten und die Wahrheit. Heute flutete Licht durch große Dach- und Frontfenster, was dem Appartement den Touch eines Gewächshauses verlieh. Das wenige Mobiliar war weiß, modern, schlicht. Dennoch konnte es sein Gemüt heute nicht erhellen.

      Oliver schlüpfte aus der Dienstkleidung, in der er eingeschlafen war, und stellte sich unter den heißen Strahl der Dusche. Die Hitze des Wassers betäubte seine Gedanken, und der Schmerz auf der Haut übertünchte die Pein der Erinnerungen. Er überlegte, was schlimmer war: eine Polizeidurchsuchung oder ein Einbruch. In beiden Fällen drang jemand ungebeten in ein privates Refugium ein und hinterließ rücksichtslos durchwühlte Kleidung, Notizen, Alben. Alles hatte an Intimität verloren. Er fühlte sich den Beamten gegenüber so nackt wie er in diesem Augenblick im Bad stand. Schnell trocknete er sich ab, als könne er damit seine Unversehrtheit zurückerlangen.

      In den Morgenmantel gehüllt, betrachtete er seine Küche, die mit Essbereich und Wohnzimmer eine offene Einheit bildete. Sogar die Kochtöpfe hatten die Beamten beschlagnahmt. Sie suchten darin nach Spuren des Brennstoffs, erklärten sie. Kaliumnitrat. Als ob er so blöd wäre, in seiner Wohnung an einer Bombe zu basteln.

      »Hier haben wir doch was«, hatte ein Polizist gesagt und mit behandschuhter Hand eine blaue Schachtel Wunderkerzen aus einer Schublade gefischt. »Der Zünder der Rauchbombe war eine Wunderkerze. Ich wusste, dass wir fündig werden würden!«, triumphierte er. Oliver schüttelte den Kopf. Wie viele Familien gab es in der Stadt, die keine Wunderkerzen im Haus hatten?

      Ein stumpfsinniges Glücksgefühl erfüllte Oliver, als er bemerkte, dass Wasserkocher und Tassen ihm geblieben waren. Er setze Teewasser auf und erklomm über die schmale Wendeltreppe den zweiten Stock, wo sich das Schlafzimmer befand. Auch hier war alles polizeilich durchwühlt. Ein Panoramablick hinunter auf die Stadt bot sich hier. Manchmal holte er sich Details mit dem Teleskop näher, das ebenfalls hier oben stand. Oliver schaltete das Radio ein. »Die Polizei sucht immer noch nach Hinweisen auf den Rauchbombenattentäter. Bitte melden Sie ...« Sofort drehte er den Apparat wieder ab. Er konnte den Zeugenaufruf nicht mehr ertragen. Verwünschungen grummelnd begab er sich in die Küche, nahm eine Tasse aus dem Schrank und goss brodelndes Wasser über den Teebeutel. Während der grüne Tee zog, ließ er sich seufzend aufs Sofa sinken und stellte die Tasse auf den Beistelltisch. Er achtete darauf, dass die feine Stoffhose und das weiße Hemd, das er sich für den Notartermin angezogen hatte, nicht zerknitterten. Der Beamer warf unermüdlich weißes Licht an die Wand. Er fischte den Beutel aus der Tasse und nippte am Tee. Wie schnell sich ein Leben ändern konnte, dachte er matt. Um nicht weiter dem Grübeln zu verfallen, drückte er eine Taste auf der Fernbedienung. Das nächste Bild der Speicherkarte wurde an die Wand geworfen: Christian und Alexander mit Louis auf dem Arm, wie sie Rüdiger auf der MS Anetta zuprosteten. Catrin stand im Hintergrund. Diese Catrin! Wie sie ihn angemacht hatte! Er schmunzelte.

      Die folgenden Bilder, die er jeweils nur kurz betrachtete, bestanden aus Nahaufnahmen von Horst, Renate und Thalberg mit seiner Frau Marianne. Dann folgte ein Schnappschuss von Catrin dem nächsten. Im monotonen Takt sprang Oliver mit dem Finger auf der Fernbedienung von Foto zu Foto: immer wieder Catrin, Catrin, Catrin. Bei einer Zoomaufnahme von ihr und Björn stockte er. Es schien, als blicke das Ehepaar direkt in die Linse. Olivers Finger schaffte es nicht, die Weiter-Taste zu drücken. Sein Blick haftete auf dem Bild. Er bekam den Eindruck, dass hier zwei fremde Menschen nebeneinander hergingen. Aus ihren Augenpaaren seufzte Müdigkeit, und ihre Lippen waren so dicht aufeinandergepresst, als wolle keiner von beiden je wieder einen Satz zum anderen sagen.

      Oliver drückte die Taste, der Beamer blätterte weiter. Die Projektion flackerte drei Sekunden. Nicht den Geist aufgeben, beschwor Oliver das Gerät, und das Bild beruhigte sich. Die Fotografie, die nun an der Wand erschien, war die selbe Aufnahme wie die vorangegangene, mit einem entscheidenden Unterschied: Oliver hatte Björns Gesicht aus einer Laune heraus gegen sein eigenes Konterfei ausgetauscht. Zum Spaß. Die Nachtschicht war ruhig gewesen, so hatte er Zeit für Photoshop gehabt … Ja, Catrin faszinierte ihn. Das Gespräch mit ihr auf der Anetta ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er hatte gefühlt, dass zwischen ihr und ihrem Ehemann etwas Ungutes schwelte. Vermutlich verstieg er sich deshalb zu der Idee, wie es wohl wäre, wenn

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