Das Doppelkonzert. Arnulf Meyer-Piening

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Das Doppelkonzert - Arnulf Meyer-Piening

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      Außer Takt

      Aber dann geschah das Unfassbare: Julia eilte dem Tempo voraus und fiel dann unerwartet zurück. Die Solisten drohten als musikalische Einheit auseinanderzufallen. Die Spannung ließ nach. Hinrich bemerkte es und wusste, dass auch seine Schwester den negativen Schwingungen im Raum nicht entkommen konnte. Er wurde nervös und hoffte, dass sie sich bald wieder in den Griff bekäme. Sie blickte hilfesuchend auf den Pianisten am Flügel. Hinrich spürte die Not seiner Schwester und konnte sich kaum auf sein Spiel konzentrieren. Er kannte die Ursache des Übels: Es war die Frau in Rot mit dem schwarzen Haar. Sie war die Judith aus dem Alten Testament, die seinen Kopf forderte und ihn schließlich bekam. Er ließ den Bogen sinken und sah keine andere Möglichkeit, außer von Neuem zu beginnen. Entsetzen und Fassungslosigkeit erfüllten den Raum. Der junge Mann stand allein vor dem Publikum, blickte verzweifelt auf seinen Vater, wie er es in ähnlich kritischen Situationen in öffentlichen Auftritten oft getan hatte. Aber der sonst so dominante Vater konnte in dieser Situation nicht eingreifen und wandte sich verärgert ab.

      In diesem Augenblick begann die Katastrophe. Die linke Hand des Vaters begann unkontrolliert zu zittern. Auch Isabelle bemerkte es, und griff nach seiner Hand. Sie streichelte sie beruhigend, aber das Zittern ließ nicht nach. Sie beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf seine Wange. Ingrid blickte starr und teilnahmslos aus dem Fenster, wo sich ein gewaltiges Gewitter mit ungeheurer Kraft zu entladen begann. Sie schien von dem Vorfall auf der Bühne nicht betroffen zu sein. Jedenfalls zeigte sie keine Regung. Sie wirkte irgendwie erstarrt.

      Hinrich bemerkte die fürsorgliche Reaktion von Isabelle und versuchte sich zu erneut zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht. Er fand nicht wieder in sein Spiel zurück, wusste kaum noch wo er war. Sein Vater runzelte verärgert die Stirn und schaute seinen Sohn missbilligend an, als wenn er sagen wollte: Nun vermassele mir nicht wieder die Schau. Junge, du bist ein Versager, du taugst zu nichts. In der Firma taugst du nicht, und in der Musik, die doch deine eigentliche Domäne ist, auch nicht. Wozu kann ich dich gebrauchen? Was soll ich mit dir machen? Am besten, du gehst deiner Wege. Mein Sohn bist du nicht, mein Nachfolger in der Firmenleitung kannst du nicht werden. Ich habe dir alles ermöglicht. Du konntest die besten Internate und Universitäten besuchen, du konntest mit den besten Lehrern musizieren. Und das ist nun der Dank für mein Bemühen. Du solltest dich schämen. Wie ein begossener Pudel stand Hinrich ratlos auf dem Podium und hielt sich an dem kleinen Geländer fest. Ihm war schwindelig, es drehte sich um ihn. Der Boden schwankte, schien sich unter ich zu öffnen, als wolle die Erde ihn verschlingen. Er wusste nicht, was er machen sollte. Der alte Herr wurde bleich, rutschte seitlich von seinem Sessel und fiel auf den Boden. Sofort bemühte sich Isabelle um ihn.

      - Ingrid löste sich aus ihrer Erstarrung, erhob sich und wandte sich den Gästen zu. Sie rief mit lauter Stimme: Wir brauchen einen Arzt. Befindet sich ein Arzt hier unter uns?

      Lähmende Stille herrschte im Saal. Niemand antwortete. Einige Gäste hatten sich von ihren Sitzen erhoben und versuchten zu erkennen, was geschehen war. Konselmann beugte sich vor und erkannte, dass er nichts tun konnte. Hier konnte nur ein Arzt helfen.

      - Rufen Sie den Notarzt an, rief Ingrid. Sie sollen sofort einen Rettungswagen schicken. Sie sollen sich beeilen, es geht hier um Leben oder Tod.

      Hinrich war zitternd vor Aufregung und Entsetzen vom Podium gestiegen und hatte sich verschämt hinter den Vorhang zurückgezogen. Er hätte sich am liebsten wie eine Maus in ein Loch verkrochen. Bloß niemanden sprechen, ich will jetzt nur noch allein sein, dachte er. Julia war zu ihrem Vater geeilt, wurde jedoch von Ingrid energisch zurückgewiesen: Du kannst hier jetzt nicht helfen, ich kümmere mich um meinen Bruder. Enttäuscht zog sie sich zurück.

      Hinter der Bühne trafen sich die Geschwister im kleinen Nebenraum, der für die Breitstellung der Getränke reserviert war.

      - Vorwurfsvoll sprach Hinrich seine Schwester an: Julia, was war los mit dir? Warum hast du plötzlich das Tempo verzögert? Wir hatten uns doch darauf verständigt, dass Paulsen die Tempi bestimmen soll. Dann hast du plötzlich das Tempo angezogen, ich aber durfte dir nicht folgen, weil wir es doch anders beschlossen hatten.

      - Ich weiß, es war meine Schuld, sagte sie. Die Tempi entsprachen nicht meinem Gefühl. Wir zerstörten die Seele des Werkes.

      - Mag sein, aber hier befinden wir uns auf der Erde, in unserem Elternhaus. Jetzt haben wir viel zerstört. Vielleicht sogar Vaters Leben. Das ist viel schlimmer als die richtige Interpretation der Musik.

      - Wir hätten es in jedem Fall zu Ende spielen sollen. Ich habe dir deutliche Zeichen gemacht und das nächste Thema angespielt. Du hättest es nur aufgreifen müssen. Ein paar fehlende Noten, ein Wechsel im Rhythmus: Niemand hätte es gemerkt.

      - Es war mir nicht möglich. Und jetzt ist alles aus. Vater wird mir allein die Schuld geben, sagte er kläglich.

      - Julia blickte ihn schuldbewusst an: Hinrich, verzeih, ich weiß auch nicht, was mit mir passiert ist. Ich dachte an unser Spiel unter freiem Himmel. Es war damals mit Michel so wunderschön, so überirdisch gewesen, wir befanden und in vollkommener Harmonie. Jetzt aber, fehlte die Seele. Wir spielten wie herzlose, unbeteiligte Automaten. Du wirktest plötzlich so abweisend und so fremd. Was war geschehen?

      - Ich kann es dir nicht erklären, denn ich weiß es selber nicht. Meine Nerven versagten, ich merkte, wie mich dies Teufelsweib mit ihren dunklen Augen fixierte. Als ich sah, wie sich dieses unselige Weib in dem roten Kleid unserem Vater zuwendete und ihm die zitternde Hand hielt. Ich sah unsere Mutter vor mir. Wie sie blutüberströmt im Bett lag. Er brach in Tränen aus.

      - Hinrich, du bist von Sinnen. Trink einen Schluck Wasser.

      - Ich kann jetzt nicht.

      - Reiß dich zusammen. Wir sind hier nicht allein.

      - Doch, ich bin allein, von allen verlassen. Vater hatte sich von mir abgewendet. Ich glaube, er war äußerst erregt, weil ich aus dem Konzept gekommen war. Und dann hat sich dies satanische Weib zu ihm gebeugt und ihm einen Kuss gegeben, so schamlos in aller Öffentlichkeit, so als ob sie hier an seiner Seite bereits Zuhause sei. Das konnte ich nicht ertragen.

      - Aber diese Frau betrifft dich doch gar nicht. Sie hat dir nichts Böses angetan. Im Gegenteil, eines Tages wird sie dir vielleicht sogar helfen.

      - Hinrich war über sein Versagen tief betroffen und auch erzürnt. Sein Zorn richtete sich jetzt auf seine Schwester. Die er im Grunde für sein Versagen verantwortlich machte. Er reagierte kalt und abweisend: Julia, das geht dich doch gar nichts an. Du lebst ja nicht hier. Du bist weit weg vom Schuss. Führst dein eigenes Leben. Wir müssen hier allein mit der schwierigen Situation fertigwerden. Ich werde nur Hohn und Spott ernten.

      - Julia hatte sich wieder gefangen: Das wirst du nicht ändern können, wirst es ertragen müssen. Aber jetzt geht es um unseren Vater. Wir müssen uns um ihn kümmern. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Es kann nur ein kurzer Schwächeanfall, kann aber auch etwas Schlimmeres sein. Ich muss sofort zu ihm und sehen, was zu tun ist.

      Die Gäste begannen den Raum zu verlassen. Auch Konselmann drängte hinaus, denn es war ihm peinlich, was er soeben erlebt hatte. Er hätte auch nicht gewusst, was er sagen sollte. Mit wem hätte er sprechen sollen? Julia war mit etwas Anderem beschäftigt. Hinrich tat ihm leid. Das wollte er ihm jetzt nicht sagen. Dazu wäre zu einem späteren Zeitpunkt noch genügend Zeit.

      Die Kerzen im Saal verlöschten allmählich. Der Ort wirkte kalt und abweisend, man mochte ihn fast feindlich nennen. Hier und da wurden behutsam ein paar Stühle zurechtgerückt. Die alte Ordnung wurde wiederhergestellt. Nun schien alles wie zuvor, und doch war es nicht so: Der Patriarch

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