Der Tanz der Heuschrecken. Ulrich Fritsch
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Aber Ampere gab sich nicht geschlagen. Er kämpfte unverdrossen weiter, wusste aber schließlich nicht mehr, gegen wen oder was, denn selbst die gefährlichsten Spötter hatten letztendlich Mitleid mit ihm und wollten auf keinen Fall riskieren, dass er sich selbst ins Aus katapultierte. Dafür war er als Faktotum zu wichtig. So näherte man sich ihm zunehmend gefälliger, sogar etwas Respekt vortäuschend, allerdings immer in der Sorge, er könnte sich der Unsinnigkeit seines Seins bewusst werden und die Stelle wechseln. Eines Tages musste er aus gesundheitlichen Gründen ausscheiden. Er hatte eine seltene Blutkrankheit. Nach mehrwöchigen Krankenhausaufenthalten kehrte er nicht mehr in die Firma zurück. Leon Petrollkowicz war wieder mit dem ganzen Personalunwesen befasst, scheute sich aber, erneut einen Pausenclown einzustellen. Er war wieder selbst gefordert.
Giselle Frou aus dem Zimmer von August Mohren entfernen? Wenn er August Mohren und Martin von Alzheim, seinen engsten und besten Mitarbeiter, den er vor zwei Jahren von einer Großbank abgeworben hatte, zusammensetzen würde? Aber würde man dieser Dame mit einem eigenen Zimmer dann nicht zuviel Ehre erweisen? Und Mohren und von Alzheim zusammen? Undenkbar, weil von Alzheim prestigebewusst war und zu seinem Status als Abteilungsleiter auch der Anspruch auf ein eigenes Zimmer gehörte. Oder sollte man die gesprächige Dame in das Großraumbüro setzen, wo der Schwall ihrer Worte in den schallgedämpften Sprecharchipelen versickern und keinen Protest hervorrufen würde? Oder sollte man einfach die Angelegenheit vertagen und die Dame vorsichtig ermahnen, mit ihren Talenten sparsamer umzugehen? Leon Petrollkowicz entschied sich für die letzte Lösung. Sie war halt im Augenblick die bequemste.
So war eben Leon Petrollkowicz, der an manchen Tagen, an denen seine Qualifikation als einfühlsamer Patron gefordert war, lieber auf der Straße Postkarten verkauft hätte als in der Firma nach Problemlösungen zu suchen. Nach dieser Verwaltungsarabeske schaltete er wieder auf seine eigentliche Aufgabe um, den Profit der Firma zu mehren und bereitete sich auf das Gespräch mit Louis Sinopret vor, Chef der Staatlichen Kadabra-Bank, einem bedeutenden Kreditinstitut in Nordrhein-Westfalen. Er hatte schon vor Wochen diesen Mittagstermin vereinbart, bei dem über einen Großauftrag gesprochen werden sollte. Die Bank war wegen überzogenen Kreditengagements und waghalsigen Spekulationsgeschäften in die Schlagzeilen gekommen und wollte unter anderem über eine geschickte Medienstrategie ihr Image wieder aufpolieren. Auf diesem Gebiet war die Firma von Leon Petrollkowicz Spitze, weil sie mit glaubwürdigen und niemals mit schreierischen Konzepten die Kunden bediente und manchmal sogar von größeren Kampagnen abriet, wenn gewisse Aussagen unglaubwürdig waren. Ob er Louis Sinopret eher restriktiv gegenübertreten würde, wollte er von dem Gespräch abhängig machen. Er konnte sich aber in diesem konkreten Fall durchaus vorstellen, einige interessante Geschäftsideen der Bank nach vorne zu kehren, um sie aus den negativen Schlagzeilen zu bringen. Eine anspruchsvolle und interessante Aufgabe, die er aber, wie sich in den nächsten Minuten herausstellen sollte, zumindest vorerst nicht lösen durfte. Als er nämlich entspannt und gutgelaunt seine Beine auf den Tisch legte, sich eine Zigarette anzündete und die Dialektik der in der Investor-Relationsarbeit immer wieder auftretenden Ansprüche und Widersprüche reflektierte, wurde er durch einen Anruf von Martin von Alzheim aus seiner Sinnierlaune geweckt.
„Ich kann es nicht für möglich halten!“
„Was können Sie nicht für möglich halten?“
„Soweit ich es richtig verstanden habe, will die Alte, Entschuldigung, Frau Hengstenberg, Ihren Termin mit Herrn Sinopret vereiteln."
„Wie bitte?“
Martin von Alzheim konnte schon ein eigenartiger Vogel sein. Wegen des ihm angeborenen Misstrauens, das sich sogar gegen gute Freunde richtete, um so mehr gegen ihm nicht sehr gewogene Vorgesetzte, suchte er nach allen Wegen, der beargwöhnten Person auf die Schliche zu kommen. Einer davon war die Abhörtechnik. So stieg er im Falle Hengstenberg auf eine kleine Leiter in seinem Büro, die immer an der gleichen Stelle positioniert war, um zum Schein ein Buch in seiner großen Bücherwand zu suchen, in Wirklichkeit aber, um sein Ohr zwischen den Büchern an eine Stelle zu legen, wo nach einem Rohrbruch die Wand nur oberflächlich mit einer Tapete saniert war und man deshalb nach dem Wegräumen einiger Bücher die Gespräche im Nebenzimmer wenigstens bruchstückhaft belauschen konnte. Dies war natürlich ein mühsames, von Leon Petrollkowicz nicht goutiertes Unterfangen, weil er seinen Mitarbeiter nicht auf der Leiter, sondern hinter seinem Schreibtisch sehen wollte. Aber manchmal machte sich dessen Klettereifer schon bezahlt. Oft reichten wenige Worte aus dem Nebenzimmer, um sich auf ein Gespräch oder Telefonat einen Reim machen zu können. Von Alzheim hatte natürlich im Laufe der Zeit seine Bücherwandbesteigungen an gewisse äußere Umstände gekoppelt. Wenn Emma Hengstenberg ausflippte oder besonders freundlich war, wenn sie der Sekretärin zurief, zu einem wichtigen Gesprächspartner durchzustellen, wenn einer ihrer erlesenen Berater an der Außentür klingelte oder in ihrem Terminkalender vielverheißende Eintragungen mit Zeitangaben standen, dann läuteten bei ihm die Alarmglocken. Außerdem hatte er seine Seilschaften, die ihm aus Papierkörben, beiläufigen Gesprächen Schreib- oder Sprachfetzen übermittelten, die er dann auf mögliche Informationen für seinen Chef auswertete.
Im konkreten Fall gab sich von Alzheim einsilbiger als sonst. Wahrscheinlich konnte er selbst nicht glauben, was er da gehört hatte.
„Wenn ich richtig verstanden habe, hat die Dame Ihre Unterredung mit der Kreditbank abgesagt.“
Leon Petrollkowicz verspürte einen heißen Stich im Magen und schüttelte ungläubig den Kopf. „Abgesagt? Das versteht doch kein Mensch. Schließlich ist das zur Zeit unser bester potentieller Kunde.“
Von Alzheim druckste herum. „Ich hörte was von ‚zu tief ins Glas geschaut’ und ‚Sie wissen schon, wie das so ist, wenn man sich die Nacht um die Ohren schlägt’ und ‚Männer unter sich’ und so weiter.“
Leon Petrollkowicz konnte und wollte es nicht fassen. Er legte auf, steckte sich erneut eine Zigarette an und sah durch das Fenster in den wolkenverhangenen Himmel. Diese Hexe, dachte er bei sich, wird mir das wohl hoffentlich nicht antun. Er wusste, dass sie den Kontakt zu den Damen in den Vorzimmern einflussreicher Leute pflegte und auch ohne besonderen Grund hier und dort anrief, aber meistens doch nur, um für sich schön Wetter zu machen. Dass sie ihn so massiv kompromittierte, war eigentlich noch nie vorgekommen. Dafür war Emma Hengstenberg zu geschickt. Als nach einer halben Stunde rein gar nichts von irgendeiner Seite verlautete – nichts vom Sekretariat, nichts vom Empfang, nichts von seiner Kollegin – ging er zu seinem Schrank und zog sich den Mantel an, um den für das Geschäft so wichtigen Termin wahrzunehmen. Unterwegs wollte er noch von Alzheim einige Instruktionen geben, aber dazu kam es nicht mehr. Emma Hengstenberg teilt ihm auf den Gang mit, dass das Vorzimmer von Herrn Sinopret angerufen und um Aufschiebung des Termins gebeten hätte. Man würde sich rechtzeitig wieder bei ihm melden.
Leon Petrollkowicz sagte nichts. Er ging zurück in sein Zimmer und rief seinen Vertrauensmann in der Staatsbank an, einen alten Freund, den er noch aus den Tagen seines Studiums kannte. Dieser versprach sich umzuhören und wieder zurückzurufen. Tatsächlich kam nach wenigen Minuten auf seiner Direktleitung, die nur wenigen Leuten zugänglich war, der Rückruf. Sein Gewährsmann konnte nichts Konkretes erfahren. Feststand, dass der Termin abgesagt wurde, aber nicht von Seiten der Bank. Damit war für Leon Petrollkowicz klar, dass seine Gegenspielerin ihn in unerträglicher Weise kompromittiert haben musste und ihm gar keine andere Möglichkeit blieb, als ihr den Garaus zu machen. Jetzt versuchte er erst einmal über die Sekretariate den für die Firma so wichtigen Gesprächstermin zu retten. Aber der Chef der Bank hatte angeblich anders disponiert und war schon auf dem Weg zum nächsten Termin, um dann von dort aus für mehrere Tage ins Ausland zu fliegen. Natürlich erfuhr Leon Petrollkowicz nicht, was Louis Sinopret im einzelnen vorhatte, wann