Etwas ist immer. Ben Worthmann
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Wenn ich einen Zeugen für meine These nötig hätte, dass die erotische Vertrautheit und die sexuelle Verlässlichkeit der diesbezüglichen Abwechslung bei weitem vorzuziehen sind, müsste ich mir nur Ronald vor mein geistiges Auge rufen, stellvertretend für all jene meiner Geschlechtsgenossen, die nach Art übermotivierter, neurotischer Trüffelschweine in einem trüffelfreien Wald ständig nach den zwei ultimativen weiblichen Schenkeln schnüffeln, zwischen denen sie Linderung zu erfahren hoffen, ohne sie indes je erlangen zu können.
Anna und ich, wir begaben uns an diesem Abend also auf unser Nachtlager, und wir hielten uns nicht lange mit Präliminarien auf. Das ist manchmal besonders angenehm, einfach schnurstracks zur Sache zu kommen, das hat nichts mit ehelicher Routine zu tun, ganz im Gegenteil. Man kann sich den Genuss der bewussten Direktheit – um es einmal so zu nennen – nur dann richtig gönnen, wenn man einander sehr gut kennt.
Annas Atem ging bereits schwer und sie war eben dabei, mich in die richtige Position zu dirigieren, als das Telefon in der Diele sich meldete.
„Ach, lass doch“, ließ sich meine Frau etwas verwaschen vernehmen, „wer wird das um diese Zeit schon sein.“
Sie machte einfach weiter. Das Telefon machte ebenfalls weiter. Ich merkte, dass ich in gewisse Schwierigkeiten geriet, die Anna allerdings zu ignorieren versuchte. Aber es war schon zu spät. Ich löste mich aus ihrer Umklammerung, stieg aus dem Bett, stolperte aus dem Zimmer, stieß gegen das Telefontischchen und nahm leise fluchend den Hörer ab.
„Ja, bitte!“, sagte ich so geschäftsmäßig wie möglich, damit gleich klar war, wie wenig gelegen mir dieser Anruf kam.
„Opa ist tot“, sagte meine Mutter.
„Oh“, sagte ich.
„Er ist ganz ruhig eingeschlafen“, fuhr sie fort. „Ich wollte noch mal nach ihm sehen – und da lag er da und atmete nicht mehr.“
„Und was machst du jetzt?“, fragte ich. „Ich meine, bist du jetzt...allein...mit ihm? Kannst du schlafen, während er...nebenan...?“
„Anton Veigel ist rübergekommen“, sagte sie, „er sitzt noch hier. Aber es wäre schön, wenn du morgen...“
„Sicher“, sagte ich, „natürlich, ich komme. Das heißt, wir kommen. Am späten Vormittag sind wir da.“
Ich ging zurück ins Schlafzimmer. Anna hatte das Gespräch mitbekommen und wusste Bescheid.
„Bring uns doch mal eine Zigarette“, sagte sie. Ich tastete mich zurück durch die Diele ins Wohnzimmer, angelte meine Schachtel Camel vom Regal und holte einen Aschenbecher.
Dann lagen wir nebeneinander und rauchten abwechselnd dieselbe Zigarette. Auf unseren erhitzten Körpern hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet, und ich dachte an den erkaltenden, allmählich starr werdenden Körper meines Großvaters, der hundert Kilometer entfernt, in dem Haus, in dem ich geboren und aufgewachsen war, in dem Bett lag, in dem er viele Nächte seines Lebens geschlafen hatte.
„Fahr du mal morgen allein nach Mellingen“, sagte Anna.
„Bist du traurig?“, fragte ich sie. „Ich meine, er war ein sehr alter Mann, fast neunzig, und er war krank.“
„Trotzdem“, sagte sie, „ja, ich bin traurig, ich habe ihn sehr gemocht.“
Du kanntest ihn ja auch nicht so gut wie ich, dachte ich. Irgendwann, gegen Ende, habe ich ihn auch gemocht, aber vorher hatte ich ihn oft genug zum Teufel gewünscht. Ich blickte auf Annas Körper, der schlank und hell war und nicht im Entferntesten vermuten ließ, dass aus ihm schon zweimal neues menschliches Leben gepresst worden war, und wie durch ein Wunder löste sich das Bild meines Großvaters in Nichts auf. Ich drückte die Zigarette aus, stellte den Aschenbecher weg, löschte das Licht – durch die Jalousienritzen kam gerade genug Mondschein, um es nicht stockfinster sein zu lassen – und hatte plötzlich den dringenden Wunsch, dort fortzufahren, wo wir aufgehört hatten.
Als ich den Arm um Anna legte, um sie an mich zu drücken, spürte ich erst einen leisen Widerstand, wahrscheinlich spielte so etwas wie Pietät dabei eine gewisse Rolle. Aber dann gab sie nach. Sie war sehr sanft, als sie mich auf sich zog, und ich wusste immer noch nicht, ob sie wirklich wollte oder ob sie nur deshalb mitmachte, weil sie fühlte, wie wichtig es gerade jetzt für mich war. Es war mir, ehrlich gesagt, auch ziemlich egal, weshalb sie das tat, was sie tat. Hauptsache, sie tat es.
Kapitel 4
Als mein Großvater geboren wurde, lag das 19. Jahrhundert in den letzten Zuckungen. Mein Großvater war ein genuiner Dorfbewohner, auf seine Weise war er immer ein antiquierter Mensch geblieben. Er war ein Patriarch, um nicht zu sagen Despot – und zugleich war er ein armes Schwein, wie die meisten Menschen seiner Generation es waren und wie es, alles in allem besehen, überhaupt die meisten Menschen sind, egal, welcher Generation sie angehören. Die wenigen Mitglieder der Menschheit, die keine armen Schweine sind, kann man, wenn man es recht bedenkt, an den Fingern einer Hand abzählen, sogar „an der Hand eines Sägewerkarbeiters“, wie sie in Mellingen und Umgebung zu sagen pflegten, wo es früher viele Holzmühlen gab, deren zweifelhafter Sicherheitsstandard sich darin dokumentierte, dass den dort Beschäftigten durchweg einer oder mehrere Finger fehlten.
Das Haus, in dem mein Großvater zur Welt kam und in dem er lebte, bis er sein eigenes Haus baute, steht heute noch, aber nachdem es mehrfach umgebaut und modernisiert wurde, hat es mit dem alten nicht mehr viel gemein. Ich habe noch nie verstanden, warum so viele Leute meinen, alte, oftmals geradezu ehrwürdige Häuser durch so genannte Modernisierungsmaßnahmen verschandeln zu müssen. Es ist ja nicht damit getan, dass neue Heizungen und Badezimmer angelegt und Leitungssysteme erneuert werden, was ja völlig in Ordnung ist, sondern immer werden auch noch schöne alte Fenster herausgerissen, Fassaden mit hässlichen Farben bestrichen und an den unmöglichsten Stellen Glasbausteine angebracht. Am widerwärtigsten finde ich es, wenn an den Außenwänden von Häusern Kachelsteine kleben, sodass sie wie öffentliche Bedürfnisanstalten aussehen.
Als ich unlängst, nach mehreren Jahren, wieder einmal in das Dorf kam und das Elternhaus meines Großvaters sah, hätte ich es tatsächlich fast nicht mehr erkannt. Das Dorf hatte sich schon lange vorher stark verwandelt, und ebenfalls nicht zu seinem Vorteil. Einst war es ein richtiges Bauerndorf gewesen, beinahe idyllisch, und wenn es auch nicht gerade eine Perle der westfälischen Siedlungskultur genannt werden konnte, so verfügte es doch über jene gewisse innere Konsistenz, die aus dem bukolischen Phlegma erwächst. Es gab eine Reihe sehr stattlicher großer Bauernhöfe, fast schon Güter, es gab eine Dorfstraße mit schmucken Häusern zu beiden Seiten, alle mit Gemüse- und Obstgärten, es gab eine Kirche, eine Schule, einen Löschteich, eine freiwillige Feuerwehr sowie einen Schützen- und einen Turnverein. Und es gab noch die Landstraße – genauer, eine Bundesstraße –, die das Dorf diagonal in zwei verschieden große Stücke teilte und es mit Mellingen verband. Es war ein durch und durch biederes, etwas langweiliges Dorf, in dem nicht viel passierte, außer, dass die Leute jeden Sonntag wie die Lämmer in die Kirche trotteten, sich gelegentlich betranken und ihre Kinder züchtigten, damit sie anständige Menschen wurden. Von Zeit zu Zeit ersoff jemand beim Baden im Fluss, der sich hinter den größten Gehöften am Rande des Dorfs durch die größten und fettesten Weidegründe zog oder es stürzte ein Bauernsohn mit dem Traktor um und wurde zu Tode gequetscht. Wenn Schützenfest war, gab es auch schon einmal eine Prügelei. Die wenigen Bewohner, die nicht von der Landwirtschaft lebten, waren entweder Handwerker oder arbeiteten in einem der mittelständischen Betriebe