Etwas ist immer. Ben Worthmann

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Etwas ist immer - Ben Worthmann

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in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts brach dann im Dorf das aus, was man eine Kulturrevolution unter den Bedingungen der agrarischen Ödnis nennen könnte. Auf einmal begannen Fabrikanten, Rechtsanwälte und Ärzte die Vorzüge des stadtnahen Wohnens in ländlicher Ruhe zu entdecken, und innerhalb weniger Jahre wurde aus dem Bauerndorf eine suburbane Kolonie der Besser- und Bestverdienenden.

      Als die neuen Siedler aus der Stadt anrückten, um aus dem Dorf einen Schandfleck zu machen, wurden einige arme Bauern wohlhabend, einige wohlhabende reich und ein paar reiche sehr reich. Endlich hatten sie jemanden gefunden, der sie gegen gutes Geld von dem sattsam vorhandenen Weideland erlöste. Die Bauherren setzten große, meist angeberische Häuser und Villen auf ihre frisch erworbenen Grundstücke, ließen Stichstraßen in frühere Wiesen und Äcker legen, richteten kiesbedeckte Auffahrten her, wo einstmals Hühner- und Karnickelställe gestanden hatten und holzten alte Obstgärten ab, um Platz für ihre Swimmingpools zu schaffen.

      Bei dem alten Elternhaus meines Großvaters handelte es sich um eine Doppelhaushälfte aus rotbraunen Backsteinen, zweistöckig, schmalbrüstig, mit engen Zimmern. Im Keller, der ein gutes Stück aus dem Boden ragte, sodass das Erdgeschoss in Wirklichkeit eine Art Hochparterre mit steinernem Treppenaufgang zur Haustür war, befanden sich eine Waschküche und ein Ziegenstall. Noch lange, nachdem die letzte der dort lebenden Ziegen den Weg allen Erdenlebens gegangen war, roch es in dem Haus nach Ziegenstall, und zwar nicht nur im Keller.

      Als Bewohner des Hauses blieben zunächst Tante Martha und Onkel Johann übrig – für mich Großtante und Großonkel, um genealogisch genau zu sein –, und ein paar Jahre später, nachdem Onkel Johann ausgezogen war, nur noch Tante Martha. Drei andere Geschwister meines Großvaters hatten sich schon früher aus dem Dunstkreis des beengten Elternhauses und der Ziegen davongemacht. In jeder Hinsicht am weitesten brachte es Herbert, der einzige „Studierte“ in der Sippe, der als diplomierter Industriekaufmann nach Süddeutschland zog und viel Geld damit verdiente, Repräsentant eines rheinischen Großkonzerns zu sein. Der Status – und Nimbus – des Aufsteigers entrückte ihn in jeder Hinsicht dem weiteren Fortgang der Familiengeschichte. Ich kannte ihn so gut wie gar nicht, und alles, was ich jemals über ihn hörte, weckte in mir auch nicht den Wunsch, ihn näher kennenzulernen. Er war ein Geizkragen, der salbungsvolle Reden hielt und seine Frau und seine Kinder traktierte.

      Martin, sein jüngster Sohn, war ein sehr spät gezeugter Nachkömmling und nur wenige Jahre älter als ich. Er trug zu Hause einen solchen Schaden davon, dass er sich veranlasst sah, Psychiater zu werden. Ich sah ihn zum ersten Mal auf der Beerdigung meines Großvaters. Da steckte er gerade in seiner analytischen Phase und war damit beschäftigt, den etliche Jahre zurückliegenden Tod seines verhassten Vaters aufzuarbeiten. Als ich kürzlich wieder von ihm hörte, hieß es, diese Phase sei zwar immer noch nicht abgeschlossen, doch sei ihr Ende mittlerweile in greifbare Nähe gerückt.

      Onkel Willi wohnte in einem Nachbarort von Mellingen und verdiente sein Geld als Vertreter im Stahlhandel. Auch er redete wie ein Kaplan, glich das aber teilweise dadurch aus, dass er filterlose Zigaretten rauchte, Whiskey trank, offene Autos fuhr und sich für damalige Verhältnisse ziemlich modebewusst kleidete, beispielsweise, indem er karierte Jacketts trug. Er hatte zwei Töchter, Lilly und Ellen, die vor allem dadurch auffielen, dass sie ein sehr umtriebiges Beziehungsleben führten, nicht nur für kleinstädtische Verhältnisse. Sie betrogen ihre Männer, ließen sich scheiden, heirateten wieder, lebten in diversen außerehelichen Liaisons und ließen Abtreibungen vornehmen. Onkel Willi ging angesichts solcher Sittenlosigkeit bei seinem eigenen Fleisch und Blut mit zunehmendem Alter dazu über, sich mit Alkohol zu betäuben. Schließlich liefen auch noch seine Geschäfte schlecht, seine Frau starb an Krebs und er wurde immer schwermütiger.

      Lilly, die ältere Tochter, tauchte damals gelegentlich bei uns auf, um meiner Mutter ihr verludertes Herz auszuschütten. Sie hatte zu jener Zeit ihre zweite Ehe hinter sich und war zeitweilig nach Hause zurückgekehrt. Es sei einfach nicht auszuhalten bei ihrem Vater, klagte sie. Der Kummer und der Suff taten das Ihre, um Willi mit Ende sechzig ins Grab zu bringen.

      Onkel Bernhard wurde auch nicht wesentlich älter, aber er überlebte alle anderen, da er mit weitem Abstand der Jüngste war. Von moralischen und finanziellen Sorgen blieb er weitgehend verschont, unter anderem deswegen, weil er es vorzog, keine Kinder zu zeugen, oder womöglich auch, weil er nicht fähig war, welche zu zeugen. Er baute sich ein Haus im Dorf, nur einen Steinwurf vom Haus der Eltern und Ziegen entfernt, und verdiente seinen Lebensunterhalt als gewerkschaftlich organisierter Elektriker in einer Fabrik in Mellingen. Sein hauptsächliches Interesse – und auch das seiner Frau – galt der Nahrungsaufnahme. Sie investierten sämtliche Einkünfte, einschließlich einer stattlichen Erbschaft, die ihr mütterlicherseits zufiel, in Lebensmittel. Jedes halbe Jahr schafften sie sich eine neue Tiefkühltruhe an, um Schweinehälften und Rinderkeulen einzufrieren. Und eines Tages bauten sie sich auch noch ein richtiges Blockhaus hinten in ihrem Garten, groß genug, um darin zu wohnen, aber sie bauten es einig zu dem Zweck, es ebenfalls mit Vorratsschränken und Kühltruhen auszustatten.

      Böse Zungen im Dorf behaupteten, Bernhard und seine Frau würden sich eines Tages „zu Tode fressen“. Und genau so kam es auch am Ende, wobei das Ende bemerkenswert lange auf sich warten ließ. Für eindeutige medizinische Diagnosen, die auf eine benennbare Krankheit als Todesursache hätten schließen lassen, reichte es in beiden Fällen nicht. Bernhard und seine Frau starben sozusagen mit vollem Mund, oder, anders gesagt, sie gaben den Löffel ab, während sie gerade mit Messer und Gabel hantierten, um ihren notorischen Futtertrieb zu befriedigen. Sie fielen gewissermaßen an der Fressfront und starben den Tod, den sie sich verdient hatten.

      Mein Großvater war das zweite von zehn Kindern eines Schmieds und der Tochter eines Bauern. Seine älteste Schwester sowie sein zweitjüngster Bruder starben im Säuglingsalter. Zwei von Zehn galt als ziemlich günstige Aufzuchtsquote, wenn man die Ausmaße der seinerzeitigen Säuglingssterblichkeit vor Augen hat. Ein Bruder fiel dann noch im Ersten Weltkrieg, ein weiterer stürzte als Monteur von einem Baugerüst und brach sich das Genick. Immerhin sechs Kinder des Schmieds und seiner Frau – mein Großvater, Herbert, Willi, Martha, Johann und Bernhard – erreichten somit ein mehr oder minder respektables Alter, das höchste mein Großvater, der als Viertletzter starb.

      „Er starb in Frieden nach einem erfüllten Leben“, lautete die Formulierung in der Todesanzeige, die wir im Mellinger Lokalblättchen aufgaben. Zu den Unterzeichnern gehörten Bernhard, der Fresser, sowie die fromme Tante Martha. Im Prinzip hätte auch Onkel Johann dazugehören müssen, doch der war gerade unabkömmlich – wie eigentlich immer, wenn es um Familienangelegenheiten ging.

      Kapitel 5

      „Anna ist nicht mitgekommen?“

      „Ach, weißt du, sie fühlte sich nicht so besonders, außerdem die Kinder...“ (Eine glatte Lüge. Sie fühlte sich, abgesehen von jener leichten situationsbedingten Traurigkeit, hervorragend nach unserer vorigen Nacht. Aber sie wollte einfach nicht mit, wie sie gleich angekündigt hatte, und ich verstand das nur zu gut. Und ich, ich wollte das alles nur so schnell wie möglich hinter mich bringen.)

      „Aber zur Beerdigung kommt ihr doch hoffentlich alle?“

      „Natürlich, klar. Wann ist denn die überhaupt?“

      (Als hätte ich nicht gewusst, dass man die Leichen traditionell drei volle Tage im Sarg stehen ließ, bevor man sie einscharrte, die Beerdigung also wohl am kommenden Mittwoch sein würde, wie ich mir ausrechnen konnte.)

      „Nächsten Mittwoch.“

      „Was meinst du, kann ich den Wagen so stehen lassen?“

      (Warum musste ich diese Frage ausgerechnet meiner Mutter stellen, die noch nie in ihrem Leben hinter

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