Etwas ist immer. Ben Worthmann

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Etwas ist immer - Ben Worthmann

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Blick glitt die Straße hinunter, mit der sich spektakuläre Erinnerungen verbanden – größtenteils in Form mündlicher Überlieferung an meine Generation, teils aber auch noch als Reminiszenzen an Erlebnisse aus sehr frühen Kindertagen. Jahrelang war die Straße durchschnittlich einmal pro Woche Schauplatz eines mehr oder minder schweren Verkehrsunfalls gewesen. Autos flogen aus der Kurve und landeten im Graben oder krachten gegen Bäume. Insassen wurden herausgeschleudert und verfingen sich blutend in Weidezäunen, Wagen überschlugen sich und rutschten scheppernd auf dem Dach vorüber. Es gab Zusammenstöße, nach denen die Feuerwehr eingeklemmte Menschen aus den Wracks befreien musste, und oft genug glich die Straße einem regelrechten Schlachtfeld.

      Der Anblick von Blutlachen, gespickt mit Glassplittern und garniert mit zerbeulten Autoteilen, wurde für die Anwohner zu einem vertrauten Bild. Sieht man einmal von den ausgewiesenen Kriegsgebieten dieser Erde ab, so weiß ich nicht, ob es noch sehr viele andere Orte gibt, an denen Heranwachsende derart massiert mit Verletzung, Zerstörung und Tod konfrontiert wurden, wie das bei mir und unseren Nachbarskindern der Fall war.

      Ob die unschuldigen Seelen daran Schaden genommen haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Auf jeden Fall konnten wir Kinder dem Ganzen auch unterhaltsame Seiten abgewinnen. Einmal verunglückte ein Lieferwagen mit einer Ladung Süßigkeiten, und wir zogen wie die Plünderer mit Eimern und Taschen los, um die verlorene Fracht einzusammeln. Veigels Kinder, die trotz – oder vielleicht auch wegen – der besonders kirchenstrengen Erziehungsmethoden ihrer Eltern mitunter eine mir durchaus sympathische Vorliebe für frivole Extravaganzen an den Tag legten, etwa, indem sie lebende Regenwürmer verzehrten oder die Katze der Nachbarn quälten, postierten sich an bestimmten Wochentagen zu bestimmten Uhrzeiten, wenn die Unfallwahrscheinlichkeit nach unseren Erfahrungswerten besonders hoch war, in der Kurve – natürlich in sicherem Abstand – und warteten darauf, dass ein Autofahrer vom rechten Wege abkommen möge, um einen Unfall sozusagen live beobachten zu können. Als ihr Vater das herauskriegte, tobte er vor Zorn und sperrte seine Brut für einen halben Tag in den Keller.

      Ich starrte in Gedanken versunken weiter auf die Straße und wartete darauf, dass mein Auto festwachsen würde. Aber den Gefallen tat es mir leider nicht. Die Hollies waren längst verstummt und ich überlegte, ob ich noch Dvorak nachschieben sollte. Aber es half ja alles nichts. Ich musste da wohl durch.

      Ich drückte die Zigarette aus und fuhr los. In der Kurve trat ich intuitiv auf die Bremse, obschon dieser Risikoabschnitt längst durch Straßenbaumaßnahmen entschärft worden und die Unfallhäufigkeit rapide zurückgegangen war.

      Ich parkte den Wagen in der Hofeinfahrt, schleppte die Getränke ins Haus und bahnte mir im Wohnzimmer einen Weg durch all den Qualm von Zigarren und Zigaretten. Ich habe nichts gegen Tabaksqualm, aber nur solange es sich um meinen eigenen handelt. Die alten Knaben hier schienen schon ziemlich in Stimmung zu sein. Ich fragte mich, womit ich das alles eigentlich verdient hatte.

      „Ein feines Auto hast du da“, erklärte mir Veigel mit schon etwas schwerer Zunge. „Wie geht's denn zu Hause und bei der Arbeit?“

      Bevor ich antworten konnte, meldete sich Dressler mit seiner Bassstimme. „Dein Opa, das war ein braver Mann, hat viel schuften müssen.“

      Dressler hatte, so weit ich mich erinnern konnte, immer schon die Stimme und die Statur eines alternden Berggorillas gehabt. Er sah aus, als könne er kräftig zupacken – ein Täuschungsmanöver der Natur. Früher war er manchmal herübergekommen, wenn bei uns ein Schrank von der Wand gerückt oder der Herd verschoben werden musste. „Kein Problem, das haben wir gleich“, sagte Dressler dann, rollte die Ärmel hoch, ging in die Hocke – und richtete sich sogleich mit verzerrtem Gesicht wieder auf. „Au, verdammt, der Rücken.“ Er war ein typischer Maulheld, wie so manche der Erwachsenen, mit denen ich es in meiner Kinderzeit zu tun hatte. Mir war das damals nur nie so richtig klar gewesen. Ich hielt es für normal, dass die Großen groß mit Worten taten. Auch mein Großvater konnte mächtig vom Leder ziehen. Meistens, wenn ein paar Leute zusammensaßen und ihre Reden führten, ging meine Großmutter in den Garten. Sie konnte es einfach nicht mit anhören.

      „Trink einen Schnaps mit uns“, dröhnte Dressler und prostete mir mit seinem Glas zu. Ich wies darauf hin, dass ich noch fahren müsse. Selbst wenn ich einen Chauffeur dabei gehabt hätte oder einen Taxigutschein für zwanzigtausend Kilometer, hätte ich hier keinen Tropfen angerührt. Es ging mir einfach gegen den Strich. August Pothmeier war bereits erheblich angeschlagen und stierte mich aus schweinskleinen roten Augen an. Backmann, sein Schwiegersohn, der jetzt noch oben bei ihm unterm Dach wohnte und nur darauf wartete, das Haus zu erben, krähte etwas von Schicksal und arbeitender Bevölkerung und ungerechten Verhältnissen und schimpfte auf die Regierung. Backmann war, wie allgemein bekannt, ein überzeugter „Roter“, aber das reichte bei weitem nicht aus, ihn mir erträglich erscheinen zu lassen.

      „Pothmeiers und Backmanns sind Angeber“, pflegte mein Großvater zu sagen. Er konnte sie nicht leiden, was ich irgendwie verstehen konnte. Ich bin aber nie dahinter gekommen, ob seine Aversion, zumindest zeitweilig, auch etwas mit politischen Anschauungen zu tun hatte. Doch obschon mein Großvater die meiste Zeit seines Lebens ein „Schwarzer“ war, glaube ich es eigentlich nicht. Er behauptete zwar früher, Pothmeier sehe im Profil aus wie Nikita Chruschtschow, der damalige kommunistische Parteichef im Kreml, „genau so verschlagen“, aber das meinte er wohl weniger ideologisch als physiognomisch. Ursprünglich war mein Großvater ein Zentrumsmann, dann, nach dem Krieg, wählte er natürlich Adenauer. Doch als Brandt kam, setzte bei ihm von einem auf den anderen Tag so etwas wie ein später Prozess der politischen Bewusstseinsveränderung ein. Die Ostpolitik fand er gut, Strauß und Barzel hingegen fand er furchtbar. Auf seine alten Tage konvertierte mein Großvater auf wundersame Weise noch zu den Sozis und, praktisch ganz nebenbei, auch zu den Agnostikern, was dazu führte, dass wir uns ein bisschen näher kamen. Je älter er wurde, umso verständiger schien er zu werden, und bisweilen gelang es uns, einigermaßen vernünftig miteinander zu reden. Sogar seine sonntäglichen Kirchenbesuche wurden spärlicher, und eines Tages stellte er sie ganz ein. Vom Papst wollte er überhaupt nichts mehr wissen – anders als seine fromme Schwester Martha, die schon bei Rundfunkübertragungen vom Petersplatz auf dem abgetretenen Linoleumfußboden ihrer Wohnküche in die Knie sank. So war er, als Anna ihn kennenlernte, und wenn ich ihr mitunter erzählte, wie er in früheren Zeiten gewesen war, sah sie mich jedes Mal zweifelnd an.

      Was meinen Großvater in früheren Jahren von Leuten wie Pothmeier und Backmann unterschied, war weniger die politische Weltanschauung als der soziale Status. Die waren Arbeiter – er aber war Graveur und Goldschmied, ein veritabler Handwerksmeister also. Er war so etwas wie ein Abteilungsleiter in einem Mellinger Betrieb, der sich auf die Herstellung von Devotionalien verlegt hatte. Andere Fabriken in Mellingen mochten Kochtöpfe, Schirmständer, Auspuffrohre oder gusseiserne Füße für Nachttischlampen herstellen. Der Betrieb, in dem mein Großvater beschäftigt war, produzierte Medaillons mit Reliefs von Heiligen, Christophorus-Plaketten, die man in katholischen Gegenden wie dieser zum Schutz gegen Autounfälle am Armaturenbrett anbrachte – offensichtlich ohne flächendeckenden Erfolg, wie die Ereignisse auf der Straße vor unserem Haus bewiesen –, Rosenkränze und Muttergottesfiguren und natürlich Kruzifixe in allen möglichen Größen und Varianten, „Herrgöttkes“ genannt.

      Mein Großvater entwarf all solche Gegenstände des religiösen Alltagsbedarfs und stichelte die entsprechenden Guss- und Prägeformen zurecht. Er war ein großer, knochiger Typ, und seine sehnigen Hände kamen mir immer so vor, als seien sie genau für diese Art von Tätigkeit geschaffen.

      Ich habe mir zwar hinsichtlich der Verbreitung der Idee von der Aufklärung in Mellingen und Umgebung nie irgendwelche Illusionen gemacht, aber bisweilen fragte ich mich doch, wer die Käufer und Benutzer dieser ganz und gar unvernünftigen Konsumartikel waren. Irgendwo müssen die zigtausend Madonnen und Heiligen und Herrgöttkes schließlich abgesetzt worden sein, denn der Betrieb, in dem mein Großvater arbeitete, florierte. Wo befanden sich bloß die Verbraucher ganzer Waggonladungen von Rosenkränzen und frommen Plaketten? Wer gab

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