Etwas ist immer. Ben Worthmann

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sagte meine Mutter. „Ich gehe schon mal wieder rein, die Nachbarn sind da. Ich habe übrigens, glaube ich, nicht genug im Haus. Könntest du schnell noch ein bisschen Bier besorgen?“

      Sie wirkte nicht übermäßig bedrückt – was mich kaum erstaunte –, aber was mich doch wunderte, war, dass sie nicht einmal mein neues Auto wahrgenommen hatte. Das heißt, eigentlich wunderte ich mich gar nicht. So war sie eben – eine eigentümliche Mischung aus Lethargie, Weltfremdheit und Ignoranz, was die meisten Dinge des täglichen Lebens anbetraf. Nun hatte sie, nachdem sie mit dreißig Jahren Witwe geworden war, ihren alten Vater

      „totgepflegt“, wie es hier auf dem Lande so schön hieß, ohne dass sich jemand etwas Hintersinniges dabei dachte, obschon es in dem einen oder anderen Fall von „totpflegen“ aus kriminalistischer Sicht sicherlich lohnend gewesen wäre, ein paar Nachforschungen anzustellen.

      Indem sie im Haus ihres Vaters die Zeit damit zubrachte, auf dessen Tod zu warten und ihm bis dahin das Essen zu kochen und seine Wäsche zu machen, hatte sich meine Mutter zweifellos eine Handvoll moralischer Meriten erworben, und dass sie dadurch außerdem in den Besitz des Hauses gelangte, empfand zumindest sie selbst als angemessene Belohnung.

      Unter anderen Bedingungen hätte ich jetzt wegen ihrer kognitiven Dissonanz bezüglich meines neuen Wagens wohl gern eine spitze Bemerkung gemacht. Aber so, nachdem Gevatter Tod eben erst zu Gast gewesen war und so etwas wie eine allgemeine Friedenspflicht das Gebot der Stunde war, verspürte ich keinen großen Drang, mit irgendjemandem herumzuzanken. Die ganze Situation war mir ohnehin höchst unangenehm. Ich will nicht gerade behaupten, dass ich bestürzt war angesichts des Ablebens jenes Mannes, in dessen Haus und unter dessen Obhut ich aufgewachsen war. Aber ein wenig ging mir das alles schon an die Nieren. Und ganz besonders erschreckte mich die Aussicht, in der kommenden Woche anlässlich der Beerdigung der versammelten Verwandtschaft begegnen zu müssen. Ich schätze Familienzusammenkünfte noch weniger als Beerdigungen, und wenn beides zusammenkommt, wie es bekanntlich meistens der Fall ist, sofern es sich bei dem Verstorbenen nicht um einen hoffnungslosen Außenseiter handelt, möchte ich am liebsten sofort das Weite suchen. Ich merkte deutlich, wie meine Stimmung immer schlechter wurde.

      Ich wendete und fuhr in Richtung Dorf. Der Gedanke, in die Stadt zu fahren, war mir ein Gräuel, obwohl das Bier dort im Supermarkt gewiss billiger war. Aber in der Stadt würden mir womöglich alte Bekannte aus meinen Jugendtagen über den Weg laufen, und das hätte mir jetzt gerade noch gefehlt. Die Gastwirtschaft am Dorfrand – sie verdiente diese leicht anachronistische Bezeichnung tatsächlich noch, denn sie hatte sich gegen alle Einflüsse des gastronomischen Zeitgeistes erfolgreich behauptet – war erstaunlicherweise geöffnet. Jahrzehntelang hatte in dem düsteren, verräucherten Schankraum ein trunksüchtiger Koloss von Wirt hinter der Theke gestanden, der die elementarsten Grundregeln der Hygiene konsequent missachtete, mit schmutzigen Fingern in die vollen Gläser langte, mittels seiner Hustenanfälle die Schaumkronen in Schneegestöber verwandelte – und dabei als der beste Pilszapfer weit und breit galt. Ich hatte es aber selbst in meinen wildesten Pennälerzeiten, als es meine Altersgenossen und ich zuweilen in besonders abseitige Lokalitäten zog, niemals über mich gebracht, die Probe aufs Exempel zu machen. Es gab in Mellingen und Umgebung gewiss nicht viele Kneipen, in denen ich noch nie ein Bier getrunken hatte. Doch diese war eine davon. Womöglich wäre ich an diesem Tag sogar in der passenden Laune gewesen, das fragwürdige Abenteuer nach vielen Jahren doch noch nachzuholen. Der Genuss eines schmackhaften, wenn auch unter bedenklichen Umständen servierten Glases Pils musste mir allerdings versagt bleiben, und zwar aus zwingenden Gründen. Der Wirt war nämlich, wie ich wusste, unlängst seiner Leberzirrhose erlegen, gegen deren Wüten er sich fast unmenschlich lange mit aller verbliebenen Kraft seines aufgedunsenen Körpers gestemmt hatte. Wahrscheinlich hatte ihn der Alkohol über die natürliche Frist seines Daseins hinaus so weit konserviert, dass er noch Jahre seinen Dienst am Zapfhahn versehen konnte, obwohl er „im Prinzip“, wie unser Architekt Stawitzki gesagt hätte, längst unter den Toten weilte.

      Wie auch immer, der Nachfolger – offenbar sein Sohn – verkaufte mir wortlos einen Kasten Bier und eine Flasche Doppelkorn. Der junge Mann war, nach seinem Äußeren zu urteilen, auf dem besten Wege, ein kongenialer Verfechter jener Ideale zu werden, für die sein Vater sein Leben hingegeben hatte. Er schien mir ganz in jene Gefilde der alkoholbedingten Unerschütterlichkeit entrückt zu sein, in denen sich nur die wahrhaften Überzeugungstrinker aufhalten, die nicht nach der Uhr schauen, bevor sie das erste Glas des Tages leeren. Seine Handbewegungen hatten etwas Mechanisches, und seine Getränkepreise waren, wie ich befürchtet hatte, die reine Unverschämtheit. Ich versagte es mir dennoch, diesen Sachverhalt kritisch zu kommentieren, obwohl mir das nicht leichtfiel. Das heißt, eigentlich fiel es mir doch leicht, denn es drängte sich mir der Eindruck auf, dass der Spross des genialen Zapfers seine Stärken nicht auf dem Gebiet der Rezeption und Artikulation des gesprochenen Wortes hatte. Ich hätte, wenn ich etwas gesagt hätte, gegen eine Wand geredet. Also bezahlte ich schweigend.

      Bevor ich zurückfuhr, blieb ich eine Weile im Auto sitzen und legte eine alte Kassette von den Hollies ein, die immer mitfuhr, egal, welches Auto es gerade war. Ich war noch nie ein Hollies-Fan gewesen, sondern stand seit jeher auf Rolling Stones, Dvorak, Beethoven, Pink Floyd und, na ja, Beatles – aber nur die sehr frühen und die ganz späten Stücke. Als ich das erste Mal „Love me do“ hörte, ging ich förmlich in die Knie. Und das Weiße Album hütete ich wie einen Schatz. Aber richtig ins Schwingen und Schweben kam meine Seele eigentlich erst bei den Neunten von Beethoven und Dvorak. Und über den Stones kam für mich nur noch der Himmel. Ich fragte mich manchmal, wie die Menschen es ausgehalten hatten, bevor es solche Musik gab. Die Hollies hatten, streng genommen, nichts als schieren Schlagerkitsch gespielt, aber es waren zwei, drei Songs darunter, die derart unschuldsvoll-reine Schnulzen waren, dass man vergehen konnte. Ich habe nun mal eine sentimentale Ader. Oder, wie mein Chefredakteur einmal sagte: „Man muss gelegentlich auch den Mut zum Kitsch haben.“ Also hörte ich mir die Hollies an.

      Ich blickte die Straße hinunter, die in der Ferne eine scharfe Rechtskurve machte und direkt an unserem Haus vorbeiführte, an jenem Haus, das mein Großvater gebaut hatte, als er selbst Familienvater wurde. Hier hatte ich nach dem Tod meines Vaters – er starb, als ich sechs war – gelebt, bis ich keine Lust mehr hatte, ein hauptberuflicher Sohn und Enkel zu sein, sondern weg wollte, und das möglichst schnell.

      Es war ein kleines, anderthalbstöckiges Haus, das deutlich, in nahezu überheblicher Manier, von den beiden Häusern rechts und links überragt wurde und kaum zu sehen war zwischen den vielen Obstbäumen rings umher. Es bot einen beschaulichen Anblick. Wenn man Häuser aus einem gewissen Abstand betrachtet, mag man kaum glauben, was in ihrem Innern alles vor sich geht. Da wird gestritten und geschlafen, gevögelt und gestorben und gesoffen und geredet und gelacht und geheult und neu tapeziert, und hin und wieder schmeißt jemand einen Gegenstand durch ein geschlossenes Fenster. So geschehen bei Veigels, unseren Nachbarn, bei denen am Heiligabend einmal eine brennende Spielzeugdampfmaschine aus dem Fenster geflogen kam. Untermalt wurde diese kometenhafte, um nicht zu sagen bethlehemeske Szene – leuchtender Himmelskörper, schlichtes Wohngebäude – vom Gebrüll des Vaters, nachdem kurz zuvor noch alle zusammen „Stille Nacht“ geblökt hatten.

      Doch das meiste von dem, was innerhalb eines Hauses stattfindet, bleibt sein Geheimnis. Und das ist auch ganz in Ordnung so. Ich stellte mir nun vor, wie die Bewohner der beiden Nachbarhäuser, Pothmüllers und Dresslers, Backmanns und Veigels, dort unten in dem kleinen Haus bei meiner Mutter im Wohnzimmer hockten und die Gläser auf meinen Großvater hoben, der nebenan im Schlafzimmer seinen ewigen Schlaf hielt, bevor ihn die Leute vom Bestattungsunternehmen bald abholen würden. Bestimmt warteten sie schon auf Nachschub. „He's my brother“, behaupteten die Hollies, und ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn die Räder meines Autos plötzlich Wurzeln geschlagen hätten. Ich überlegte ernsthaft, ob ich einen Schluck von dem Doppelkorn nehmen sollte, ließ es dann aber bleiben. Schließlich musste ich noch fahren. Es hatte Zeiten gegeben, da ich grundsätzlich zu jedem Unsinn aufgelegt war und mir manchmal schon morgens Cognac hinter die Binde gekippt hatte. Aber das war lange, bevor ich Anna kennenlernte und vernünftig

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