Etwas ist immer. Ben Worthmann

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Etwas ist immer - Ben Worthmann

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so blieb es mir doch ein Rätsel, wie neuer Bedarf geweckt wurde, denn das Zeug war schließlich keinem erkennbaren Verschleiß ausgesetzt und wurde in der Regel weitervererbt. Aber womöglich gab es ja Frauen, die zu ihren Männern sagten: „Du, Schatz, übrigens brauche ich mal wieder einen neuen Rosenkranz, der alte taugt nicht mehr viel.“

      Mein Großvater übte also, kritisch betrachtet, einen etwas dubiosen Beruf aus, und die Marktgesetze des katholischen Fetischismus haben sich mir nie zur Gänze erschlossen. Ich muss allerdings auch einräumen, dass sie mich in keinem Moment meines Lebens ernstlich interessiert haben. Ich fand aber, dass der Beruf eines Herrgöttkesmachers ganz gut zu meinem Großvater passte, so sittenstreng und gottesfürchtig, wie er damals, zu seinen aktiven Zeiten, war. Seine Frau, meine Großmutter, sah das ähnlich, und wenn in ihrem Urteil über den Vater ihrer Kinder so ein gewisser leiser, nicht übermäßig freundlicher Unterton mitschwang, so schloss das gleich die gesamte Sippe ihres Mannes mit ein.

      „Beten und Herrgöttkes machen, das kann er“, sagte sie. „Aber sonst? Na ja, die sind alle so, die haben sich schon immer für was Besseres gehalten.“ Allzu fromme Menschen waren ihr suspekt. Und besonders suspekt waren ihr „die“, womit sie die Familie meines Großvaters meinte, in die sie zu ihrem Unglück eingeheiratet hatte.

      Kapitel 6

      „Willst du den Opa noch mal sehen?“, fragte mich meine Mutter. „Sie kommen nämlich gleich, um ihn abzuholen.“

      Ich sagte: „Es wäre gut, wenn diese Leute hier allmählich verschwinden würden. Sie sind drauf und dran, sich ziemlich vollzuschütten.“

      „Ach, lass mal“, meinte sie.

      Die Nachbarsfrauen hatten sich inzwischen aus der Küche, wo sie mit meiner Mutter gesessen hatten, zu ihren trinkenden Männern begeben, und wir waren für einen Moment allein.

      „Wir waren gestern übrigens beim Architekten“, sagte ich.

      „Ihr wollt also wirklich? Das ist ja schön. Hoffentlich klappt alles nach Plan und ihr übernehmt euch nicht.“

      „Wegen der Finanzierung muss ich noch mal mit der Bank und mit dem Menschen von der Bausparkasse reden, aber ich denke, es wird kein großes Problem sein.“

      (Es würde noch viel weniger ein Problem sein, wenn das hier ein ordentlicher Todesfall mit einer richtigen Erbschaft wäre, dachte ich für mich. Aber so, wie die Dinge liegen, fällt da nicht ein Euro für uns ab. Das Haus bekommt meine Mutter, und wenn noch ein bisschen Geld übrig ist, teilt sie sich das mit ihren Brüdern, diesen Großmeistern der beruflichen Erfolglosigkeit.)

      Ich verscheuchte diese unangemessenen Gedanken aus der Mördergrube meines Herzens und öffnete die Tür zu dem Schlafzimmer, das früher für meine Mutter und ihre Brüder das Elternschlafzimmer gewesen war, obwohl dort die meiste Zeit nur mein Großvater geschlafen hatte. Meine Großmutter war dort schon lange ausgezogen und hatte ihre Schlafstatt ins Wohnzimmer verlegt, wo jetzt die Nachbarn tranken.

      „Ich kann neben dem Mann nicht schlafen, er schnarcht“, konstatierte sie und richtete sich jeden Abend auf dem Sofa ihr Bett her. Seit der Anschaffung eines Fernsehers hatte sie einen weiteren Grund, im Wohnzimmer zu nächtigen. Manchmal schlich ich mich spätabends heimlich hinein, um mir Sendungen anzusehen, die mich interessierten, Boxkämpfe mit Muhammed Ali beispielsweise oder dramatische Fernsehspiele, die als künstlerisch wertvoll galten und hin und wieder ein paar gewagte Lichtblicke verhießen – einen weiblichen Brustansatz unter einem spitzenbedeckten Unterrock etwa oder ein bis zum Oberschenkel entblößtes Bein. Früher hatten die Pfarrer von der Kanzel gegen derlei Verwerflichkeiten gewettert, mein Großvater ebenfalls. Später, als meine Großmutter nicht mehr lebte, saß er allerdings selbst ganz gern bis tief in die Nacht vor dem Fernseher und machte einen bemerkenswert gleichgültigen, um nicht zu sagen aufgeschlossenen Eindruck, wenn die Hüllen fielen.

      Meine Großmutter las auch heimlich Illustrierte schon zu Zeiten, da sie in den Augen meines Großvaters ebenso verpönt waren wie frivole Fernsehspiele. Tagsüber hielt sie die Schundblätter wie „Quick“ oder „Stern“ unter dem Bettzeug versteckt. Sie hatte ein großes Herz. Einmal, auf einer Familienfeier, sah ich sie sogar eine Zigarette rauchen. „Nur so zum Spaß“, sagte sie und paffte drauflos wie eine alte Squaw. Sie half mir oft mit dem Taschengeld aus, und wenn ich an den Wochenenden zu spät nach Hause kam, brauchte ich nur ans Wohnzimmerfenster zu klopfen und sie machte mir diskret die Haustür auf, schon um ihrem Mann eins auszuwischen, der sich nur allzu gern darüber aufgeregt hätte, dass sein sechzehnjähriger Enkel, langhaarig und angetrunken, erst nach Mitternacht heimkehrte.

      Man musste kein Psychologe sein, um klar zu erkennen, dass meine Großmutter ihren Mann nicht ausstehen konnte. So sehr sie ihre Kinder liebte, so wenig hielt sie von demjenigen, der ja immerhin seinen Teil dazu beigetragen hatte, dass es diesen Nachwuchs gab. Ich fragte mich oft, wie die beiden es überhaupt zu Wege gebracht haben mochten, Kinder in die Welt zu setzen. Die meisten Menschen empfinden bekanntlich eine Hemmung davor, sich ihre Eltern beim Sex vorzustellen. Was meine diesbezüglichen Mutmaßungen über meine Großeltern angeht, so kann ich nur sagen, dass entsprechende Vorstellungen mit ihnen als Akteuren schlicht und einfach meine Fantasie überforderten.

      Mit der Ehe meiner Eltern war es noch wieder anders. Sie endete viel zu früh und zu plötzlich, als dass ich Gelegenheit gefunden hätte, mir über sie Gedanken zu machen. Mein Vater starb an einem Herzinfarkt, als ich noch sehr klein war und gar nicht begriff, was da eigentlich geschehen war. Er verschwand einfach von einem auf den anderen Tag aus meinem jungen Leben. Ich empfand das als nicht sehr freundlich, ohne es ihm allerdings regelrecht übel zu nehmen, denn mir war trotz meiner sehr jungen Jahre klar, dass man es niemandem zum Vorwurf machen konnte, wenn er „plötzlich und unerwartet“, wie es in solchen Fällen heißt, an einem Herzinfarkt stirbt.

      Gesehen habe ich damals meinen Vater als Toten nicht. Ich hatte bisher, genau genommen, überhaupt noch nie einen Toten bewusst und aus nächster Nähe gesehen, fiel mir jetzt ein, als ich das Schlafzimmer meines Großvaters betrat. Einmal, als junger Lokalreporter, hatte ich über einen Unfall berichten müssen, bei dem es eine Brandleiche gab. Ein Tankzug war gegen ein Haus gerast und explodiert, und man zeigte uns etwas Verkohltes, das wie ein morscher Baumstamm aussah und bei dem es sich angeblich um den Fahrer handelte. Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. Aber ich brachte es letzten Endes nicht über mich, dieses schwarze Ding ernsthaft als Leiche wahrzunehmen. Und bei den Unfällen auf der Straße vor unserem Haus hatten uns die Erwachsenen nie nahe genug herangelassen, um einen Schwerverletzten oder gar eine Leiche wirklich in Augenschein nehmen zu können.

      Mein Großvater war mithin der erste reale Tote in meinem Leben, dem ich sozusagen leibhaftig gegenüberstand.

      Kapitel 7

      „Er lag ganz ruhig und völlig regungslos da“, erzählte ich Anna, „aber nicht so, als ob er schliefe. Es stimmt einfach nicht, wenn die Leute über einen Toten sagen: Er lag da wie ein Schlafender. Es ist anders. Der Tod macht den Menschen...irgendwie...zu einem Gegenstand, friedlich, das ja, aber ganz und gar leer.“

      „Hör bitte auf damit“, sagte Anna. „Du weißt, ich kann so etwas nicht gut hören.“

      Meinst du vielleicht, ich hätte das gut ansehen können – lag es mir auf der Zunge zu erwidern –, wie er da starr und steif hingestreckt auf dem Bett lag? Dann kamen zwei Männer vom Beerdigungsinstitut und und legten ihn in den Sarg. Er war hart wie ein Brett. Sie schlangen einen Lederriemen um seinen Körper, um ihn besser heben zu können. Sie banden ihm ein Tuch um den Unterkiefer und verknoteten es auf dem Kopf, so wie man das früher

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