Sag mal, Lara. Jasmin Schneider

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Sag mal, Lara - Jasmin Schneider

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      Das Klopfen kam vom Lieferanteneingang, der den Lagerteil ihres Ateliers mit dem zweiten Aufgang verband. Der zweite Aufgang besaß einen Lastenaufzug. Es gab nur einen einzigen Menschen, der sie immer wieder zwan,g ihn dort einzulassen, wahrscheinlich weil er zu faul war die letzten fünf Meter in den dritten Hof zu laufen: Der Postbote.

      Sie rannte hinüber. »Wie oft muss ich Ihnen eigentlich noch sagen, sie sollen den dritten Hinterhof benutzen?« brüllte sie außer sich vor Abneigung. Sie hasste diesen Briefträger wirklich. Er war ein ungehobeltes Stück Dreck.

      »Bost!«, schallte die Antwort hinter der verschlossenen und dreifach gestärkten Tür. »Einschreibe.«

      Gott, was für ein Blödmann! Wie lange lebte er denn nun schon in Deutschland, dass er die einfachsten Begriffe nicht richtig aussprach… Bost… so ein Unsinn!

      Wenn sie niemanden beim zweiten Eingang erwartete – also ungefähr 360 Tage im Jahr – war er aufgrund des immer geringer werdenden Lagerplatzes im Atelier auch nicht so einfach zugänglich. Lara hatte Mühe, die großen Leinwände aus dem Weg zu räumen, die meisten davon musste sie hinüber in den Werkstattteil schleppen. Sie hätte den Postboten am liebsten erschlagen.

      Fünf Minuten später hatte sie endlich genug Platz geschaffen, die schwere Tür zu öffnen. Der ungehobelte Klotz war inzwischen schon wieder verschwunden. Seine Schritte klangen von ganz unten.

      »Hallo!?«, brüllte Lara. Sie war außer sich. Ganz sicher würde sie ihm nicht nachrennen.

      »Bost!«, rief der Idiot wieder.

      »Sie haben doch gehört, dass ich die Tür aufmache, oder?«

      Lara schaute vorn bei der Treppe die Flucht hinunter. »Was ist nun?«

      »Einschreibe«, rief seine raue Stimme.

      Lara hörte einen gehässigen Unterton. Dieses Arschloch erwartete doch tatsächlich, dass sie zu ihm hinunter lief!

      »Okay, ich gebe bei Post ab, Frau Lara.«, schallte es jetzt und er lief weiter.

      »Sie werden mir jetzt auf der Stelle die Post hier herauf bringen!«

      »Eine schäne Tag noch, Frau Lara!«. Unten fiel das Tor ins Schloss.

      Lara nahm all ihre Beherrschung zusammen und schritt aufrecht die Treppen hinunter. Im zweiten Hof stellte sie den viel zu klein geratenen, in gelb gekleideten Schwarzen. Er grinste blöd und legte dabei weiße, makellose Zähne frei.

      »Diesmal kommen Sie nicht so einfach davon«, schnaubte sie wütend. »Ich werde meinem Freund von Ihren Unverschämtheiten erzählen. Machen sie sich auf etwas gefasst!« Wütend riss sie ihm Stift und Block aus der Hand und quittierte für das Einschreiben. Es war vom Jugendamt Pankow. Ihr Herz setzte für eine Millisekunde aus.

      Der Postbote lächelte jetzt nicht mehr. Er verrenkte sich und blickte hinter Laras massige Gestalt. Als er dort niemanden erblickte, sah er erst Lara, dann den Umschlag an. Nun grinste er wieder. »Schäner Tag noch, Frau Lara.« Dann tänzelte er leichtfüßig davon.

      Lara fasste sich nach einigen Minuten tiefen Atmens. Der Brief in ihrer Hand war scheinbar schwerer geworden. Ganz langsam öffnete sie ihn auf dem Rückweg zum Lasteneingang. Wie Sabine Kaiser es ihr vor einigen Tagen voraus gesagt hatte, enthielt das Schreiben den positiven Bescheid ihres Adoptionsantrages.

      Der Weg zu Fuß von der Hufelandstraße über die Danziger hinüber zur Scher-Straße dauerte etwa eine Viertelstunde. Wenn man schnell ging oder gar lief, zehn Minuten. Nur zehn Minuten für die Reise zwischen zwei Welten. Die eine reich an Farben, blühenden Pflanzen, die üppig von neu angebauten Balkons herunterwucherten. Die andere – jenseits der dicht befahrenen Danziger Straße – das Grau in Grau größtenteils frustrierter Existenzen.

      Jackie machte sich gerne vor, das Überqueren der Danziger als eine Art Erlösung zu erleben. Schließlich hatte sie drüben ihre halbe Kindheit verbracht. Zumindest bis zu dem Tag, an dem ihr Säufervater Jackie und ihre Mutter halb tot geschlagen hatte. Es war so schlimm, dass er dafür sogar verurteilt worden war und für fünf Jahre in den Bau wanderte. Als sie wieder auf den Beinen war, kündigte ihre Mutter die Wohnung in der Scher-Straße, die nur wenige Häuserblocks von Jackies jetziger Unterkunft entfernt lag. Die Tussi von der Fürsorge hatte ihnen was in Mitte organisiert. Nach sechs Monaten ist die Alte abgehauen. Jackie hat sie da gelassen.

      Eins wusste Jackie genau, ihre Sache würde sie besser machen, auch wenn es manchmal schwer fiel. Gerade heute, wo Jonnie wieder einmal ganz besonders trödelte. Er hüpfte wie ein hirnamputierter Hase hinter ihr her, in den Händen irgendwelches Mädchenzeug, das er – wo auch sonst – bei der Dicken gebastelt oder gemalt, ausgeschnitten oder sonstwie zusammengefriemelt hatte.

      »Sag mal, kannst du auch mal Sachen machen, die Jungs in deinem Alter machen?«, Jackies kleine Stimme überschlug sich gleich zu Anfang.

      »Was machen denn Jungs in meinem Alter, Mama?«, fragte er debil.

      Sie hatten endlich die Danziger Straße erreicht und Jackie stapfte viel zu schnell für Jonas über die breite Straße. Auf dem Mittelstreifen wartete sie ungeduldig. Als er endlich an ihrer Seite war, war die Ampel zur anderen Straßenseite wieder auf rot gesprungen. »Nenn mich nicht Mama!«, blaffte sie, »wie oft soll ich dir das noch sagen?«

      Jonas antwortete nicht. Er sah nur bockig zu Boden.

      Das regte Jackie so auf, dass sie hinzufügte: »Die Dicke wird erst Ruhe geben, wenn du schwul geworden bist.«

      Jonas hatte nicht die geringste Ahnung, was das jetzt nun wieder heißen sollte. Er zog die Mundwinkel noch weiter nach unten und studierte angestrengt den Boden vor seinen Füßen, wo jemand eine Hummel tot getreten hatte. Der Junge versuchte sich ganz auf die feuchte Stelle um den Insektenkadaver herum zu konzentrieren, wo sich die Strahlen der tief stehenden Nachmittagssonne brachen. So viel Flüssigkeit speicherte also eine Hummel… so viel…

      Er wurde unsanft am Arm gepackt und gerüttelt. »Hast du gehört, Jonnie?«, Jackies Stimmchen glich dem Klagelaut eines Spatzes.

      Jonas war jetzt ganz schön wütend geworden. Nicht nur, dass Jackie Lara schon wieder die Dicke nannte, obwohl er sie doch gebeten hatte, das zu lassen, nein, jetzt tat sie ihm auch schon wieder weh und kam mit ihrem Gesicht so bedrohlich nah an seines! Jonas mochte seine Mutter, aber er fand auch, ihr Mund rieche nach Aschenbecher, vor allem, wenn sie ihn so anschrie.

      Jetzt wusste er jedenfalls gar nicht genau, ob er weinen oder schreien sollte. Mit einem heftigen Ruck befreite er seinen Arm, kreischte: »Nenn mich nicht Jonnie!«, und nahm die Beine in die Hand.

      Bremsen quietschten, Autofenster wurden heruntergelassen, Schimpfwörter gebrüllt und um ein Haar wäre ein Kleinlaster in ein Cabrio mit Hamburger Kennzeichen gebrettert. Jonas erreichte unbeschadet die gegenüberliegende Seite. Er hörte wie jemand »Ey, du Schlampe, kannst du nicht auf dein scheiß Balg aufpassen?«, rief.

      »Ach fick dich doch!«, entgegnete die Stimme seiner Mutter. Dann hörte er ihre kurzen, schnellen Schritte hinter sich und lief nach Hause.

      Laras älteste Freundin, Renate Schrödermann, stand etwa sechs oder sieben Schritte vor einer riesigen Leinwand. Auf den ersten Blick zeigte sie nichts weiter als in unzähligen Schichten aufgetragene Ölfarbe in Braun- und Orangetönen. Erst aus einiger Entfernung erschloss sich dem aufmerksamen Betrachter ein Gebilde, das sich konzentrisch

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