Die Banalen und die Bösen. Jannis Oberdieck

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Die Banalen und die Bösen - Jannis Oberdieck

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Fahrt trotz grauenhaft frühen Aufstehens, Verspätung kaum nennenswert. Aber im ICE ist man ja auch vor grölenden Fußballfans und besoffenen Junggesellenabschieden sicher. Niemand dreht Ghettoblaster auf, um Passagiere mit Ballermann-Hits zu beschallen – zumindest rund um Berlin eine allgegenwärtig gewordene Gefahr, seit die diesbezügliche Zuständigkeit vom Zugpersonal auf Mitreisende verlagert wurde. Dabei ist es so viel einfacher, sich für das Volk einzusetzen, wenn man nicht so viel mit ihm zu tun hat!

      Seit einigen Jahren habe ich jedoch diesen gelegentlich wiederkehrenden Traum: Wir sitzen in einer Konferenz, Experten, Wirtschaftsvertreter, Volksvertreter, Ministeriumsvertreter wie ich. Da geht auf einmal die Tür auf und ein junger Mann steht da, stutzt, hat offenbar niemanden hier erwartet. Dann überblickt er uns, Erkennen setzt ein und er bricht in schallendes Gelächter aus. Über uns lacht er, hemmungs- und endlos, als hätte er den Atem der ganzen Welt. Ich glaube, dieser junge Mann bin ich. Mein früheres Selbst.

      Zeit also vielleicht doch für einen Schnitt, wo die Einflusssphäre der Hauptstadt inzwischen weit hinter mir liegt, man ist irgendwo ja auch noch Mensch. Blicke ein wenig verständnislos auf den Dienstlaptopschirm mit liegengebliebener Arbeit vor mir: Antrag der Baustofffirma Seyring, auch weiterhin Sand vom Grund der Nordsee absaugen zu dürfen, alles fertig bearbeitet und nur noch zur Unterschrift vorgesetzt. Im Anhang ein Gutachten, das allgemeine Umweltverträglichkeit bescheinigt – erstellt im Auftrag des Ministeriums, durchgeführt von der Seyring AG selbst. Ja, Sand zur Herstellung von Beton wird immer knapper, neun Zehntel der Strände Floridas bereits abgetragen und zu Baustoffen verarbeitet, da muss nun auch die Nordsee ran. Im Internet Gegengutachten von WWF, BUND und NABU, offenbar auf unteren Ebenen unseres Ministeriums abgefangen: Mit dem Sand werden auch sämtliche Lebensformen vom Meeresboden gesaugt, 41 bedrohte Arten dabei. Baggerschiffe blasen zu feine Sandpartikel anschließend zurück ins Meer, entstehende Trübungswolken verkleben Kiemen und Poren, Massaker im großen Stil. Außerdem recht glaubwürdige Untersuchungen, dass Küstenränder allmählich nachrutschen, Sandstrände immer schmaler, Instandhaltung von Dämmen gefährdet.

      „Abgelehnt“, wähle ich im Menü, digitale Unterschrift darunter. Zum ersten Mal in dieser Woche tatsächlich so etwas wie Zufriedenheit: Dieser Job könnte interessant sein, wenn man Zeit hätte, sich immer die nötigen Informationen zu verschaffen. Nichts ist gefährlicher als ein Beamter, der weiß, was er tut.

      Angespornt durch diesen Erfolg verbringe ich die restliche Fahrtzeit damit, Informationen über meinen Gastgeber zu recherchieren. Die PrimAct AG war erst nach Verabschiedung von TTIP II, der zweiten Stufe des Freihandelsabkommens, gegründet worden – gefördert vom Ministerium für Bildung und Forschung. Dahinter steht der US-Konzern XSolutions, der 72% aller Patente für Genmais hält (11,8 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz, 1,6 Milliarden Gewinn im letzten Jahr). XSolutions hat in den USA erfolgreich die Kennzeichnungspflicht für gentechnisch veränderte Lebensmittel abwehren und hohe Subventionen für Genmais durchsetzen können, Oberliga also.

      Über die PrimAct AG hingegen findet sich erstaunlich wenig. Firmensitz in Mannheim. Vorzeigeprojekt ist die Einrichtung von Genlabors an Schulen in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Bildung und Forschung, junge Menschen behutsam an die neue Technologie heranführen und so weiter. Im Handelsblatt ein Bericht zur Situation der Gentechnik in Deutschland, der ein eher schwarzes bzw. rotes Bild zeichnet: Offenbar hat die PrimAct bereits nach einem Jahr die Hälfte ihrer Mitarbeiter entlassen müssen, Fotos von leerstehenden Labors und ein Interview mit einem Pressesprecher, der die tief verwurzelte Angst der Europäer vor gentechnischen Veränderungen beklagt. Ich liebe diese Internet-Recherchen: Wie schnell sich da beruhigend das Gefühl einstellt, Dinge unter Kontrolle zu haben.

      Trotzdem bekomme ich auf Gedeih und Verderb nicht heraus, womit dieses Unternehmen eigentlich Geld verdient. Die Aktien stehen erstaunlich gut, aber das hat nichts zu sagen: Wahrscheinlich werden sie in amerikanisch-üblicher Weise entweder von der Prim­Act selbst oder ihrem Mutterkonzern aufgekauft. Offenbar hält man sich mit US-Finanzspritzen und deutschen Steuergeldern (viereinhalb Millionen im letzten Jahr) nur knapp über Wasser.

      Trotzdem gehört Geschäftsführer Jost Scheuermann zum Offenen Marktplatz Europa – einem eigentlich höchst exklusiven Club von 50 Wirtschaftsführern transnationaler Konzerne, die zusammen über 60% der Wirtschaftsleistung der EU repräsentieren. Genau der Club, dessen Logo sich immer wieder auf dem Schriftsatz diverser EU-Gesetze findet. Ist die PrimAct also letztlich nur eine Strohfirma, mittels derer XSolutions in Europa Fuß fassen will? Eine Kontaktbörse zum Aufbau wichtiger Beziehungen, Hauptsache hochvernetzt?

      Als ich meinen Laptop schließen will, fällt mir noch ein kommerziell-gelb unterlegtes Suchergebnis auf: PrimAct Morsleben. Was zur Hölle macht die PrimAct in einer Einöde wie Morsleben? In eben jener Gegend, in der Professor Gnüster elf neue Arten entdeckt haben will? Dieser Link führt jedoch nur auf eine Kundenseite: Ein junges Team aus Logistikunternehmern, Müller– und Bäckermeistern bietet Rohstoffe für regionale Bäcker und Konditormeister an, besondere Produkte für Lebensmittel-Allergiker.

      Komme mir grob veralbert vor: Ein Global Player errichtet in einer beinahe menschenleeren Gegend Deutschlands einen Betrieb, der Brot für Allergiker verkauft? Mein bevorstehendes Wochenende wird zunehmend undurchsichtiger.

      5 - Ein idealistischer Weltverbesserer

      Der Bahnhof Mannheim gibt sich beim Einfahren unter nunmehr sengender Sonne zunächst als postapokalyptische Wüste aus Stahl und Schotter, der zubetonierten Innenstadt wohlwollend verdeckt durch eine Fassade im Stil übergroßer Siegestore. Flügel links und rechts erweitern das Ganze seit 2012 zu einem multifunktionalen Ort attraktiver Öffentlichkeit mit vielfältigen Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungsangeboten, was im Idealfall bedeutet, dass sich ein ausgedruckter An- und Abfahrtsplan vor lauter Geschäften nicht mehr finden lässt, jetzt im Handy-Zeitalter. Glücklicher Weise ist das heute nicht mein Problem, denn ich werde wie versprochen auf dem Bahnsteig erwartet.

      Beim Aussteigen schlägt mir bereits die lebensfeindliche Gluthitze verbauter Innenstadt entgegen. Ein wenig benommen durch plötzlichen Klimaschock taumele ich aus dem Trott abwärtsströmender Massen, bemüht, blendende Helligkeit blinzelnd zu kompensieren. Irgendwo hinter mir verklingt lakonisch ein »We thank you for troubling with the Deutsche Bahn«, als es vor mir plötzlich dunkler wird: ein Mann im Anzug von durchaus mehr als zwei Metern. Vor der Brust ein Schild, Sundrive Chauffeurs and Limousines Mannheim, in riesigem Arial darunter: Herr Müller. Unwillkürlich gleiten meine dem Schlagschatten dankbaren Augen am hageren Körper entlang: Tatsächlich, kein Hosenbein zu kurz. Beeindruckend, dass ein Limousinendienst solch Hünen nicht nur bequem in ein Auto, sondern auch in dessen Dienstkleidung bekommt. Das obere Ende hingegen ist im Gegenlicht nur schwer auszumachen.

      »Herr Müller vom Umweltministerium?« - freundlich, offen, ein wenig verschmitzt. Und überraschend jung, noch in den 20ern, vielleicht ein Nebenjob? Mit Roman Sander benamt, noch mit leicht osteuropäischem Akzent und kraftvollem Händedruck, der sich gleich zupackend meines Koffers annimmt. Schönes Reisewetter hätte ich mir ausgesucht, sagt er, wo mir jetzt in Bewegung erster Schweiß flutartig auszubrechen droht. Dann folge ich, während wir hinabsteigen in die Bahnhofshalle, Orpheus nichts dagegen. Wimmelndes Menschengemenge auf sonnendurchgleißtem Marmor zwischen Shoppingzeilen, die zu unerwartetem Halten und Abbiegen motivieren - überstrahlt vom bestimmt 14 Meter hohen Glasportal des Ausgangs, auf dem das Logo der Mannheimer Hockeymannschaft „Die Adler“ prangt, als wär´s das Siegel der Vereinigten Staaten. Jetzt erst rätsle ich, wie Roman Sander mich wohl erkannte: Eigentlich gibt es von mir außerhalb der Amtsakten nicht viel Fotomaterial.

      Draußen im pflastersteinernen Hochofen ist Romans Chrysler-Stretch­li­mou­si­ne silbern und so gut poliert, dass sich der trostlos-gut durchbackene Bahnhofsvorplatz mit Litfasssäulen als architektonischen Höhepunkten überbelichteten Flirrens in ihr spiegelt. Insgesamt jedoch angenehm schlicht, Bentley Grill wie ein leeres Wappen trotzig voran,

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