Raju und Barbara. Wilhelm Thöring
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Raju und Barbara - Wilhelm Thöring страница 16
11
In Deutschland bereiten sich die Menschen auf Weihnachten vor. Als Barbara noch drüben lebte, da hat sie sich nicht viel aus diesem Fest gemacht, dem viel Arbeit, Hetzen und Laufen, Überlegen und Putzen und andere Vorbereitungen vorausgingen. In diesem Land mit seinem ungewohnten Klima überfällt sie Wehmut, wenn sie an Straßen und Schaufenster denkt, die mit Kerzen und Tannengrün und vielen anderen Besonderheiten geschmückt sind, die zu diesem Fest gehören, dazu die besondere Stimmung, die über dieser Zeit liegt. Sie denkt auch zurück an ihre Kindheit. Wie erfüllt und selig konnte sie sein, wenn es auf Weihnachten zuging und so viel Geheimnisvolles in der Luft lag. Hier hat sie monatelang unerträgliche Hitze oder Regengüsse, die mit Sonnenschein wechseln, und um diese Zeit sind die großen Kaufhäuser in Kolkata und anderswo mit bunten Luftschlangen und Luftballons und überreich mit farbigen Lichterketten geschmückt ... Drüben, denkt sie, könnte es frieren, vielleicht sogar schneien, da ist die Luft frisch und klar und voller Gerüche
Sie hat Raju gefragt, ob es in Indien auch Tannenbäume gäbe – Raju wusste es nicht.
„Warum fragst du danach“, wunderte er sich. „In Deutschland hast du auch nichts danach gefragt. In den ersten beiden Jahren hatten wir einen Baum, danach nicht mehr.“
Aber diesmal hätte sie gerne einen in der Wohnung, antwortete sie, worauf er sie nur seltsam angesehen hat.
Einen Tag vor Weihnachten hat Raju sie mit einem Tannenbaum besonderer Art überrascht. Ashim hat drei größere Baumzweige zusammenbinden und sie in die Form einer Tanne schneiden müssen, den hat Raju, geschmückt mit elektrischen Kerzen und bunten Stanniolgirlanden, mit Nüssen und Datteln, vor das Gartenfenster des Wohnzimmers gestellt. Oben, wo an deutschen Weihnachtsbäumen ein Stern oder eine Spitze aufgesteckt wird, hat er eine Schleife drapiert, auf der zu lesen ist: Fröhliche Weihnachten! Und darunter hat er dasselbe auf Bengali geschrieben.
„Eine Tanne ist hier nicht zu bekommen“, sagte Raju, der wie ein kleiner Junge vor ihr stand und sich freute, dass ihm die Überraschung gelungen war. „Vielleicht hätte ich in einem der großen Kaufhäuser einen künstlichen auftreiben können, aber solche hast du nie gemocht. So hat Ashim dir das hier gebastelt! Er hat keine Nadeln, aber die Form eines Weihnachtsbaumes. Im nächsten Jahr hast du einen richtigen Weihnachtsbaum, wie er in deutschen Häusern steht. Versprochen, Bärbel, versprochen!“
Rajus Eltern, denen dieses Fest nicht fremd ist, zeigten sich verwundert, dass in einem indischen Haus solche Moden eingeführt werden sollen. Der Vater meinte, der Baum gehöre nicht auf einen Tisch, er gehöre auf den Fußboden, dann wäre er auch für den Hund zu gebrauchen. Und doch saß er die ganze Zeit so, dass er dieses fremde, eigenwillige Gebilde ansehen konnte. Ja, an diesen Tagen hielten sich die Schwiegereltern viel länger beim Sohn auf, als sie es sonst taten.
Am Abend des zweiten Weihnachtstags, den sie vom Morgen bis zum Dunkelwerden wegen der angenehmen Temperatur auf der Terrasse zugebracht haben, will Doktor Sharma sich aus seinem Korbsessel erheben, um sich ein wenig im Garten die Füße zu vertreten. Er stützt sich mit beiden Armen auf die Lehne, dann fällt er wieder zurück. Auch beim zweiten Versuch kommt er nicht auf die Beine, er stürzt sich auf die Armlehne und kippt mitsamt dem Sessel um. Barbara und Raju führen ihn nach oben in sein Schlafzimmer, aber der alte Mann wehrt sich; er will nicht von ihnen wie ein Kind ins Bett gebracht werden, mault er. Sie bleiben eine geraume Weile bei ihm, und als sie gehen, setzt sich die Mutter zu ihm aufs Charpoy.
Am darauf folgenden Tag, bevor es hell wird, steckt die Mutter ihren Kopf durch das Moskitonetz ihres Sohnes, um ihn zu wecken. Sie versucht zu flüstern, doch sie ist so laut, dass Raju und auch Barbara sofort hellwach sind. Barbara schlägt das Moskitonetz zurück:
„Was ist, Raju? Was will die Mutter?“
„Der Vater ...“
„Was ist mit ihm?“ Barfuß, ohne sich etwas überzuziehen, läuft Barbara ins Schlafzimmer der Alten.
Doktor Sharma liegt mit offenem Mund, die Augen aufgerissen und starr gegen die Zimmerdecke gerichtet, auf seinem Bett, neben ihm steht die Tasse mit kaltem Tee vom gestrigen Abend. Raju befühlt den Vater, er legt ein Ohr auf seine Brust, dann nimmt er den Spiegel von der Wand, den er ihm dicht vor den Mund hält, um zu sehen, ob sich Atemspuren darauf zeigen.
Der Mutter, die auf der anderen Bettseite hockt und den Sohn beobachtet, sagt er, dass der Vater gestorben sei. Die alte Frau seufzt auf, sie zieht den Schleier tief ins Gesicht und zieht sich in ihr Schlafzimmer zurück, als könne sie es hier nicht mehr aushalten; geräuschvoll schließt sie ihre Tür ab, um nicht gestört zu werden. Erst ist von ihr nichts zu hören, dann fängt sie zu jammern an; sie ist aber sofort still, als die Kinder an ihre Tür klopfen, um mit ihr zu reden.
Nein, sie öffnet nicht, sie will allein sein.
Raju hat alles für den toten Vater getan, was ein indischer Sohne in einem solchen Fall zu tun hat. Weil Rahul mit seiner nichtsnutzigen Frau wieder irgendwo durchs Land zog, fiel ihm die Aufgabe zu, den Vater in angemessener Weise einzuäschern. Die in ein weißes Laken eingeschnürte Leiche wurde zu einem Ghat an den Fluss getragen, wo sie, wie es der Brauch verlangt, ins Wasser getaucht wurde; reichlich Holz ist aufgeschichtet worden, die Priester waren bestellt, um das ihre zu tun – einen Hammer auf dem Schoß, saß Raju beim Scheiterhaufen, bis die Flammen getan hatten, wozu er sie entzündet hatte. Den Hammer brauchte er nicht, denn der Schädel des Vaters hatte sich von selbst geöffnet, um die Seele frei zulassen. Als die Flammen erloschen waren, wurde die Asche zusammengekehrt und in eine Urne gepackt. Die Asche will sie nicht hier in Kolkata dem Wasser übergeben, sondern in Varanasi, dem heiligsten Wallfahrtsort im ganzen Land.
Durch den Tod des Vaters tauchte Raju wieder tief ins Indische, das seit Urzeiten das Leben dieser Menschen, das ihr Denken und Handeln bestimmt. Er ist für Barbara auch äußerlich fremd geworden mit seinem glänzenden, rasierten Schädel und der verbliebenen Haarsträhne am Hinterhaupt. Manchmal erschrickt sie, wenn sie ihn sieht, ein andermal beschleicht sie Angst vor seinem Aussehen.
Mit Verwunderung sah Barbara diesen Wandel, der sich durch Tod und Ritus an ihrem Mann vollzog. Ihr kam es vor, als glitte Raju Tag für Tag weiter von ihr weg, und die Stütze, deren sie so sehr bedurfte und die er ihr zugesagt hatte, vermochte er nicht mehr zu sein.
Durch die Urne, ein irdenes schmuckloses Gefäß etwa so groß wie eine mittlere Konservendose, die hinter Blumen verdeckt im Bücherregal steht und auf den Tag wartet, um in den Ganges entleert zu werden, ist der alte, zornige Mann für Barbara ebenso stark und lebhaft gegenwärtig wie zu Lebzeiten. Ihr ist, als verfolge der Schwiegervater sie immer noch mit seinen Blicken und als habe er sogar daran etwas auszusetzen, wenn sie sich in diesem Zimmer aufhält.
„Seit Tagen bist du wortkarg wie jemand, der schmollt, und jetzt sitzt du eingepackt wie eine Kranke auf der kühlen Terrasse, Bärbel!“
Barbara fährt zusammen, denn Raju ist leise gekommen, er geht barfuß, als dürfe er seit dem Tod des Vaters keine Schuhe mehr tragen.
„Du hast mich erschreckt“, sagt sie. „Raju, ich bitte dich: wenn du die Asche nicht hier in den Fluss geben willst, der doch ein Seitenarm des Ganges und ebenso heilig ist – lass uns bald nach Varanasi fahren, dass wir sie dahin bringen, wo du sie dem Wasser übergeben willst, wo sie hin gehört.“
Raju setzt sich ihr gegenüber, er ist verschwitzt, schiebt die Unterlippe vor und macht sich damit nur noch hässlicher, findet Barbara.