Reise nach Rûngnár. Hans Nordländer

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Reise nach Rûngnár - Hans Nordländer

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bitte. Es war noch nicht an der Zeit. Auf dem Tchelasan wird er es erfahren. Hier ist nicht der rechte Ort. Bis dahin ist Nils bei uns in guten Händen.“

      „Aber – “, begann sie.

      „Kein aber“, unterbrach Tophal Charlotte in sehr bestimmtem Tonfall. „Später. Wir kümmern uns schon darum, keine Sorge.“

      „Also gut, wenn du es sagst.“

      Nils spürte, dass ihr die Worte des Tchela gar nicht recht waren und sie sich gern darüber hinweggesetzt hätte, aber offensichtlich gab es eine gewisse Hierarchie in ihrer Gruppe und Tophals Worte galten etwas. Nils fragte sich, wo er innerhalb dieser Hierarchie stand, wenn er denn einen Platz darin hatte. Aber die Antwort lag für ihn auf der Hand. Er musste wohl froh sein, dass sie sich überhaupt mit ihm abgaben.

      Er verfiel wieder ins Grübeln. Das, was er in letzter Zeit erlebt hatte, war schon allerhand. Und jetzt begegnete ihm in dieser Welt auch noch eine Schweizerin, die von sich ernsthaft behauptete, eine Hexe zu sein und von ihm als einen »großen Erdenkrieger« sprach und von einer Aufgabe, die vor ihm lag. Vielleicht fiel ihm ja doch irgendeine Rolle dabei zu. Selbst wenn ihre heroische Bezeichnung für ihn sicher nicht ernst gemeint war, war alles andere ganz schön viel für jemanden, der den größten Teil seines Gedächtnisses verloren hatte, fand Nils. Vielleicht hatte Tophal ja Recht und er, Nils, war in den Händen seiner Begleiter gut aufgehoben, aber er sah sich kaum in der Lage, das beurteilen zu können. Und es gab allerhand Gründe, daran zu zweifeln. Seine Gedanken schweiften ab.

      Plötzlich sah er wieder seine drei Richter in dem bizarren Schloss von Bihaford vor sich und hörte die Worte Narvidurs, die behaupteten, der Fürst, der Mönch und der Feldherr wünschten sich, Märchenhelden zu werden. Das war vollkommen absurd – oberflächlich betrachtet. Der Wunsch war von den Ereignissen vereitelt worden, denn zumindest Fürst Dyrgorn war bei den Kämpfen auf der Strecke geblieben, aber vielleicht war er ernstzunehmender, als es aussah. Zweifellos entsprang dieser Wunsch der Absicht, in dieser Welt eine bestimmte Bedeutung zu erlangen und sie wurde mit Sicherheit von manch einem anderen Rûngori geteilt. Aber war ein solches Denken den Menschen fremd? Andererseits würde kaum jemand auf der Erde auf den Einfall kommen, ein Märchenheld sein zu wollen.

      Nach allem, was Nils bisher in Rûngnár erlebt hatte, besaß diese Welt tatsächlich etwas Märchenhaftes, und nicht erst, seit sich ihnen eine angeblich echte Hexe angeschlossen hatte. Nils zählte in Gedanken auf: die Drachen, die Magie Narvidurs, von der Nils immer noch nicht viel gesehen hatte, dem außergewöhnlichen Volk von Rûngor, die Erdgeister, besonders weil sie sichtbar waren, blaue Rehe, sechsbeinige Pferde und noch einiges mehr. Auch wenn er den größten Teil seiner irdischen Vergangenheit vergessen hatte, so überzeugten ihn seine verbliebenen und die zurückgekehrten Erinnerungen davon, dass es all diese Dinge auf der Erde nicht gab. Da konnte Charlotte noch so oft behaupten, sie sei eine Hexe.

      Nils überlegte, ob es möglich war, dass sich die Welt der Rûngori in den Märchen der Menschen widerspiegelte, schließlich waren die Welten nicht völlig voneinander getrennt. Und die irdischen Märchen waren alles andere als friedliche Kindergeschichten. Es waren Geschichten nicht selten voller Grausamkeit und Niedertracht und quollen über von den merkwürdigsten Gestalten und unmöglichsten Abenteuern ihrer Helden. Nils war sicher, bei weitem noch nicht alles kennengelernt zu haben, was es in Rûngnár gab. Narvidur hatte selbst gesagt, dass es gegenseitige Einflüsse gab und als deutlichstes Beispiel kamen ihm die beiden Drachen Sokrates und Aristoteles in den Sinn, die einige Zeit unter den Völkern des Altertums bekannt gewesen sein sollten, wenn auch sicher unter anderen Namen. Ohne Frage konnten sie dann der Ursprung zahlreicher Erzählungen und Heldensagen sein.

      Obwohl es keinen Grund dafür gab, hellte sich Nils´ Stimmung spürbar und auf wundersame Weise auf, denn er glaubte plötzlich in der Lage zu sein, ein bemerkenswertes Bild zu erblicken, wie die Welten der Menschen und der Rûngori miteinander verwoben waren. Wenn er genügend Zeit hatte, und ein Ende seines Aufenthaltes in Rûngnár war ja noch nicht abzusehen, dann würden sich wahrscheinlich viele Fragen von allein beantworten, auch ohne die Erklärungen seiner rûngorischen Begleiter. Aus seiner trüben, von dichtem Nebel der Erinnerungslosigkeit eingehüllten Niedergeschlagenheit schwang er sich zu der Erkenntnis auf, wie aufregend und außergewöhnlich seine Lage war. Wahrscheinlich teilte er seine noch kümmerlichen Kenntnisse Rûngnárs nur mit einer winzigen Anzahl anderer Menschen. Und er hatte immer noch keine Ahnung, wofür das alles gut sein sollte.

      Und doch fiel es Nils nicht leicht, mit uneingeschränkter Zuversicht in die Zukunft zu blicken, denn es war anzunehmen, dass ihm weitere Gefahren und phantastische Begegnungen bevorstanden, und er hasste Ungewissheit.

      Plötzlich spürte er den Blick Charlottes auf sich ruhen. Sie lächelte ihn an, als er aufblickte.

      „Du denkst nach“, stellte sie fest. „Man spürt förmlich, wie deine Gedanken sich überschlagen.“

      Nils lächelte zurück.

      „Überschlagen ist vielleicht der falsche Ausdruck, aber es stimmt schon, ich habe nachgedacht. Hat man mir das angesehen oder kannst du Gedanken lesen?“

      Diese Gewissheit, nämlich dass ihr seine Überlegungen nicht verborgen blieben, wäre ihm überhaupt nicht recht gewesen.

      Charlotte lachte und es klang weder überheblich noch spöttisch.

      „Nein, keine Sorge. Außerdem, Gedanken sind heilig. Allerdings verrät mir dein Gesicht, wie es in dir arbeitet und ich erkenne, dass deine Aufmerksamkeit für unsere Umgebung sträflich nachgelassen hat. Das, worüber du nachdenkst, mag ja bedeutungsvoll sein, aber ein späterer Zeitpunkt wäre dafür vielleicht günstiger. Immerhin stelle ich fest, dass deine Niedergeschlagenheit auf wunderbare Weise nachgelassen hat. Vorhin war sie nicht zu übersehen gewesen. Habe ich Recht, wenn ich glaube, dass sie einer zuversichtlichen Spannung Platz gemacht hat?“

      „Sag´ `mal, du kannst ja doch Gedanken lesen.“

      „Ich sage es dir noch einmal. Nein, das kann ich nicht. Aber ich kann Stimmungen spüren. Und das vielleicht besser als andere.“

      „Das ist doch fast das gleiche, oder?“

      „Na ja, in einem gewissen Sinne schon. Es lässt sich einiges daraus schließen. Aber keine Angst, ich erzähle es nicht weiter.“

      „Das wirst du auch nicht brauchen. Wahrscheinlich können es die anderen hier auch.“

      Nils sah Charlotte prüfend an. Auch wenn du es nicht zugeben willst, dachte er, bin ich überzeugt, dass du Gedanken lesen kannst. Alle Hexen können Gedanken lesen.

      Der Blick, den Charlotte erwiderte, ließ alle Deutungen offen. Dabei lächelte sie nicht einmal.

      „Hat dein Stimmungswandel etwas mit meiner Anwesenheit zu tun?“, fragte sie spitzbübisch.

      „Hä? Wie kommst du jetzt darauf?“

      „Ach, nur so“, erwiderte sie.

      Nils jedenfalls konnte nicht erkennen, was Charlotte in diesem Augenblick dachte.

      „Darf ich dich etwas fragen?“, sagte er. „Etwas, äh – Berufliches.“

      „Nur zu“, ermunterte sie ihn. „Wenn ich will, bekommst du auch eine Antwort.“

      „Welche Art von Hexe willst du sein?“

      „Du glaubst es nicht, stimmt´s. Lass dich überraschen. Aber deine Frage verstehe ich nicht.“

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