Four Kids. Byung-uk Lee
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Soo-Jung, der selbst keine Familie besaß, wusste nicht, was er davon halten sollte. Als Waise war es nun mal nicht nachvollziehbar, welche Probleme man mit seinen Blutsverwandten haben konnte. Wie ein Hund nicht verstehen konnte, warum sein Herrchen Geld verdienen musste. Manchmal lag er in seiner heruntergekommenen Wohnung auf der Matratze und stellte sich vor, wie seine Eltern ausgesehen haben mochten. Im Heim hatte er ein Foto von ihnen verlangt, aber die Leiter, mürrisch und kalt, verweigerten seinen Wunsch. Mit Vierzehn floh er schließlich aus diesem Rattenloch, das die Seelen unschuldiger Kinder verschlang. Einige Zeit schlug er sich als Botenjunge für zwielichtige Geschäftsmänner durch, was ihm zuwider war. Es kam ihm töricht vor, sich einer solchen Gefahr auszusetzen. Schließlich erbarmte sich Gyeong seiner und gab ihm ein regelmäßiges Einkommen. Es reichte, um seine Kosten zu decken und ein wenig anzusparen. Für was, das wusste er selbst noch nicht. Sein Kopf war noch nicht gefüllt mit Träumen und Visionen. Eine Tatsache, die ihn selbst zum Grübeln brachte. Wohin sollte das Schiff steuern? Hauptsache immer weiter Richtung Sonne.
„Schlägt er dich?“, fragte Soo-Jung.
Wieder blickte Hyuna zu Boden und weigerte sich eine Antwort zu geben.
„Weißt du, manchmal, wenn ich mich schlecht fühle, reise ich mit meinen Gedanken in ferne Länder. Und in jeder Fantasie reite ich auf einem Tier. Ich versinke in dem Traum auf einem Kamel durch eine Wüstenlandschaft zu reiten, einem Elefanten durch den indischen Dschungel mit ihren antiken Tempelanlagen oder auf einem wilden Pferd durch die mongolische Steppe, wie es unsere Vorfahren getan haben.“
Soo-Jung überkam ein Gefühl von Scham, denn offensichtlich wusste das zarte Mädchen von Nebenan mehr über die Welt als er. Er kannte nur die Ecke, wo er aufgewachsen war.
„Du scheinst viel zu lesen“, stellte er neidlos fest.
„Gelegentlich lese ich meinem Bruder eine Gutenachtgeschichte vor. Ich liebe ihn. Er ist das Einzige, was mir wichtig ist.“
Der Himmel wurde dunkler und es kündigte sich ein Regenschauer an, der die ganze Stadt bedrohte. Nur wenige Leute liefen durch die Gassen, meist waren sie in Eile. Soo-Jung sprang von der Mauer und reichte Hyuna die Hand. Als er auf seinen Drahtesel stieg, setzte sie sich auf den Gepäckträger. Zunächst drehten sich die Räder langsam. Der Hinterreifen wurde kaum von ihrem zierlichen Körper belastet. Dann trat Soo-Jung kräftiger in die Pedale und gemeinsam sausten sie durch das Labyrinth. Vor Hyuna zogen Betonmauern, rote Dachziegel und Bewohner vorbei, die ihr mit voller Bewunderung hinterher sahen. Sie schloss die Augen, um den Zugwind zu genießen, der ihr Gesicht umwehte und die Haare aufwirbelte. Soo-Jung spürte, wie sich die warme Stirn des Mädchens gegen seinen Rücken lehnte. Während er fuhr und sich einen Weg durch das Gewirr aus engen Gassen bahnte, musste er lächeln. Seit langem fühlte er sich wieder frei und glücklich.
„Komm mich doch öfters besuchen“, hörte er ihre sanfte Stimme.
„Das werde ich“, war seine ehrliche Antwort. Denn mit ihr fühlte er sich wohl. Soo-Jung hatte noch nicht viel Erfahrung mit Mädchen gehabt, aber er spürte, dass sie zu ihm passen könnte.
Zunächst fielen nur einige dicke Tropfen vom Himmel und benetzten den staubigen Weg, dann öffneten sich die Schleusen. Soo-Jung spürte wie sich sein T-Shirt immer enger um seinen Oberkörper schnürte, während ihm die Muskeln brannten und der Regen ihm klamm von seinem kahlen Schädel perlte. Genauso durchnässt klammerte sich Hyuna enger um seine Hüfte, seine Wärme suchend, die er ihr gerne geben wollte. Die Gummireifen ließen das trübe Wasser an Betonwände spritzen, wenn er durch eine Pfütze fuhr. Gemächlich lief es dort hinunter und versickerte in den Ritzen. Am Ende des Weges erkannte sie ihr Haus. Der Regen fiel noch stärker und behinderte die Sicht, aber das baufällige Gebäude würde sie auch unter noch schlechteren Wetterverhältnissen wiedererkennen.
Unter dem Vordach stand Jun-Su. Schon von Weitem erkannte sie, dass er getrunken hatte.
„Wo bist du solange gewesen?“, brüllte er in den Schauer hinein. „Komm sofort ins Haus!“
Am wankenden Gang ahnte sie, dass es nicht bei einer Flasche Soju geblieben war. Sein fleckiges Unterhemd klebte an seinem runden Bauch und die fettige Haut glänzte noch mehr durch die Nässe. Hyuna stieg schnell vom Gepäckträger, um ihm entgegen zu laufen, weil sie wusste, wie ihr Vater war. Mit Leichtigkeit wurde sie zur Seite gestoßen. Wie ein zorniger Bulle stürmte er auf Soo-Jung zu. In seiner Brust spürte der Junge wie sein Herz immer schneller klopfte, aber seine Miene blieb mutig. Diesem Unmenschen wollte er keineswegs seine Furcht zeigen. Die Genugtuung wollte er ihm nicht geben. Noch den Hintern am nassen Sitz und ein Bein in eine Wasserlache gestemmt stand er da. Jun-Su redete nicht lange, sondern packte ihn am Kragen und zog ihn hoch. Dem kleinen, dicken Mann hätte Soo-Jung nicht so viel Kraft zugetraut. Das Fahrrad kippte zur Seite und die ölige Kette wurde noch feuchter.
„Du lässt deine dreckigen Finger von meiner Tochter! Hast du verstanden?“
Durch den trüben Regenvorhang sah Soo-Jung, wie Hyuna sich aufrappelte und zu ihm eilte.
„Papa, lass ihn. Er hat doch nichts getan!“, schrie sie schon aus der Ferne. Die Verzweiflung in ihrer Stimme jagte Soo-Jung einen Schauer über die Haut.
„Deine Tochter darf ausgehen mit wem sie will“, schleuderte er dem Vater grinsend ins Gesicht. Dann spürte er einen dumpfen Schmerz in der Magengegend. Der Fausthieb war gezielt und fest. Soo-Jung fiel auf den steinigen Boden. Der Schmerz betäubte kurz die Kälte, die klamm seinen Körper umklammerte. Auf ihn herab blickte Jun-Su, wie ein unbezwingbarer Fleischberg.
„Aber nicht mit so einem streunenden Köter wie dir.“
Der kalte Blick des Dicken traf ihn fast so hart wie der Fausthieb. Hyuna stand hinter ihrem Vater, traurig und ratlos. Es tut mir leid, sagten ihre schmalen Augen als sie Soo-Jung anblickte. Es tut mir so leid.
Ist schon gut, flüsterte er ihr in Gedanken zu, während Jun-Su sie Richtung Haustür stieß.
Mittlerweile war seine Hose völlig durchtränkt. Trotzdem blieb er eine Zeit in der Pfütze sitzen. Sein Blick, getrübt vom Regenvorhang, auf das Haus gerichtet, in dem sie verschwunden war. Verschlungen vom Rachen des Gebäudes mit seinem schmutzigen, weißen Gemäuer. Aus dem Inneren drang noch lautstarker Streit, der vom Geräusch des fallenden Regens gedämpft wurde. Man konnte einen kleinen Jungen weinen hören, so dezent wie ein Staubkorn auf einer Tischfläche. Mit zitternden Knien richtete sich Soo-Jung auf und stieg auf sein Fahrrad, das halb versunken in der Wasserlache lag. Mit einer gewissen Erleichterung verließ er das Viertel, obwohl er auch Stolz fühlte. So hatte er doch vor dieser zähnefletschenden Bulldogge keine Furcht gezeigt, sondern kühn in ihre vom Alkohol geröteten Augen geblickt. Er machte sich Sorgen um…. Konnte er das wirklich schon denken? Ja, er machte sich Sorgen um seine Freundin. Möglicherweise musste sie jetzt für sein Verhalten büßen.
Das Nudelhaus erschien ihm in diesem trüben Wetter wie ein Lichtschimmer. Ein sicherer Zufluchtsort, der ihn vor den Witterungen des Lebens schützte. Gyeong, dem Soo-Jung im Treppenhaus begegnete, starrte ihn verwundert an, als er völlig durchnässt und verdreckt das Fahrrad in den Flur schob. Trotzdem stellte er keine Fragen, was Soo-Jung an ihm sehr schätzte. Der alte Koch warf einen Plastikbeutel mit fauligen Gemüseschalen in die Tonne und verschwand wieder im Imbiss. Als Soo-Jung die Stufen hochstieg, spürte er jeden Muskel in Oberschenkel und Waden, die wie ein Inferno des Schmerzes seine Nervenenden versengten. Er hörte bereits das Kratzen hinter der Tür, die er langsam öffnete, und Kurt Cobain, den er den ganzen Tag allein gelassen hatte, huschte durch den Spalt und kletterte vor Freude sein Bein hoch. Den kleinen Taiwanhund hatte Soo-Jung bereits ins