Four Kids. Byung-uk Lee

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Four Kids - Byung-uk Lee

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dieser Gedanke an. Mit Mühe streifte er sich die zerfledderte Jeans über die Beine. Hatte er zugenommen? Letztendlich war es ihm auch egal. Nach der üblich nachlässigen Reinigungsprozedur griff er sich das verwaschene T-Shirt von Hard Rock Café vom Boden und verließ seine bescheidene Behausung. Dabei knallte er die Tür laut zu, damit sein Chef wusste, dass er sich auf den Weg befand. Es war ein Fluch, dass sich der Nudelimbiss im gleichen Gebäude wie seine Wohnung befand. Aus einer vermeintlichen Bequemlichkeit entwickelte sich langsam eine riesige Lästigkeit. Es war Soo-Jung selbst, der die Initiative ergriffen und den tüchtigen Gyeong nach einem Job gefragt hatte. Das Angebot war anfangs zu verlockend gewesen: Mietfreies Wohnen und ein spärliches Gehalt. In seiner jugendlichen Naivität war er auf diesen Deal eingegangen. Alles war besser als in die Schule zu gehen, die Soo-Jung mehr hasste als seine Eltern, die er nie kennenlernen durfte. Waren sie tot oder wollten sie einfach nichts von ihm wissen? Waren sie ihm egal, so waren auch ihm sie egal.

      Der klein gewachsene Gyeong stand gerade in der Kochnische, als Soo-Jung den Laden betrat. Mit der Stupsnase über einem dampfenden Topf gebeugt schloss sein Chef genießerisch die Augen. Ein paar graue Haare sprossen ihm bereits wie verdörrte Tannennadeln aus seinem schwarzen Schopf. Gyeongs Frau, die Soo-Jung nur selten zu Gesicht bekam, da sie die meiste Zeit Daheim die Kinder hütete, war gerade dabei, mit einem nassen Lappen die wenigen Tische abzuwischen. Ihren Namen hatte sie ihm mal gesagt, aber was sein Namensgedächtnis anging, glich es eher einem löcherigen Taschentuch. Ansonsten war sie eine sehr schweigsame Person, die zudem noch viel jünger aussah als ihr Mann. Fast meditativ drehte Gyeong seinen Kopf weg vom Dampf und bemerkte endlich seinen Lieferjungen.

      „Probier mal. Ist ein neues Rezept.“

      Den bereits benutzten Löffel wischte er an seiner Schürze ab und tauchte ihn in die scharfe, brodelnde Brühe. Innerlich ekelte sich Soo-Jung, als ihm Gyeong den dampfenden Löffel mit Suppe entgegenhielt. Wie ein Vogelbaby reckte er seinen Kopf nach vorn, um die Neukreation seines Vorgesetzten zu kosten. Überraschend gut schmeckte sie.

      „Und?“, fragte Gyeong mit Augen, in denen große Erwartungen aufblitzten.

      „Ist ok“, meinte Soo-Jung.

      „Ist nur ok?“ Beleidigt zog Gyeong den Löffel wieder zurück. „Du hast doch von gutem Geschmack keine Ahnung, deswegen bin ich der Koch, und du nur der Lieferjunge.“

      „Klar“, stimmte Soo-Jung artig zu. Der neue Tag sollte nicht mit einem Streit beginnen.

      Gyeong stieß einen lauten Seufzer aus, während er Soo-Jung einen zerknitterten Zettel in die Hand drückte. Vom Kochdampf war seine Haut im Laufe der Jahre weich und rosig geworden. Mit einer flüchtigen Handbewegung grüßte Soo-Jung Gyeongs Frau, die nun gerade dabei war, die gelben Tulpen auf der Fensterbank des kleinen, aber gemütlichen Geschäftes zu gießen. Eine gewisse Erleichterung spürte der Lieferjunge, als er endlich den Laden verlassen hatte und nun seinen bestimmten Arbeitsplatz betreten durfte, die Stadt. Ein Gefühl von Freiheit durchströmte seine Adern, wenn er mit dem Fahrrad durch verwinkelte Gassen, über Hauptstraßen, die vor fahrendem Blech überquollen, oder durch künstliche Parkanlagen fuhr. Dabei riss er unzählige Kilometer ab, die seine Oberschenkel am Ende einer Schicht hart wie Stein werden ließen. Stets hatte er das Mobiltelefon in der Tasche, damit Gyeong ein Gefühl von Kontrolle hatte. Gelegentlich ging Soo-Jung nicht ran. Bei dem Gedanken, dass sein Chef wutentbrannt seine Stimme nicht vernehmen würde, formten sich seine blassen Lippen zu einem Schmunzeln. Wenn er nicht so zuverlässig das Essen ausliefern und jeden Winkel der Stadt so gut kennen würde, hätte Gyeong ihn tatsächlich schon auf die Straße gesetzt. Daher wollte Soo-Jung ihn nicht zu sehr verärgern. Der Riemen der Thermotasche, die die heißen Nudeln mit Meeresfrüchten vor dem Erkalten schützte, schnitt sich in seine Schulter.

      Was soll´s, dachte Soo-Jung, als er schon einige Blocks und ein paar wütende Autofahrer hinter sich gelassen hatte. Mit leerem Magen fuhr es sich deutlich schlechter. Er stieg vom Fahrrad, um sich ein Käse-Sandwich aus der Bäckerei zu holen, die zufällig seinen Weg kreuzte. Dazu machte er es sich mit heißer Schokolade auf einer Straßenbank bequem. Dann musste der Kunde halt zehn Minuten länger auf sein Essen warten und Gyeong ihm dafür erneut den Kopf waschen. Zwar konnte er sich keine Menschennamen merken, aber dafür kannte er fast jede Straße in dieser Stadt. Er kannte Seoul so gut wie eine Mutter ihr Junges. Jeden Charakterzug, jede Schwäche und jede Gewohnheit der Stadt hatte er sich seit seiner Kindheit eingeprägt. Die Feierabende verbrachte er häufig in Internet-Cafés, die in den letzten Jahren in Mode gekommen waren und die Menschen vor sozialen Kontakten bewahrten, die meist unerfreulicher und enttäuschender sein konnten, als ihre Pseudonyme, die sich in Namen wie Coldwind75, NakedApe oder Clownface69 ausdrückten. Mit Bluebird27 ging Soo-Jung seit langem wieder ein Risiko ein, indem er ein Treffen vorschlug.

      Gerade erblickte er den Boden des Styroporbechers, an dem sich noch hartnäckig einige Kakaoreste klammerten, da klingelte wieder das Telefon. Aus unerfindlichen Gründen war Soo-Jung heute in glänzender Laune, daher beschloss er, sich dem Ärger Gyeongs auszusetzen.

      „Bist du schon da?“, fragte der Nudelkoch voller Ungeduld. „Ich habe hier noch eine weitere Bestellung bekommen. Also, zacki zacki.“

      „Ja, ich sehe schon fast das Haus“, flunkerte Soo-Jung, während er seinen Drahtesel bestieg.

      Gyeong hatte schon wieder aufgelegt, um sich vermutlich dem Teigkneten zu widmen. Eines musste man seinem Chef lassen, er beherrschte sein Handwerk. Soo-Jung selbst aß gelegentlich im Nudelhaus, obwohl es ihm eigentlich zuwider war. Es schmeckte dort so gut, dass auch gelegentlich Bestellungen aus den reicheren Stadtvierteln entgegengenommen wurden. Voller Stolz berichtete Gyeong seiner Frau, wenn eine Bestellung nach Gangnam ausgeliefert wurde oder Männer in feinen Anzügen höchstpersönlich an den kleinen Tischen Platz genommen hatten.

      Die Fahrradkette rasselte in monotonem Takt, als Soo-Jung wieder Fahrt aufnahm. Zum Stadtbezirk Nangok-Dong sollte die Bestellung gehen. Nachdem er einige Abzweigungen genommen hatte, rollte er durch eine Gasse, die von niedrigen, grauen Mauern gesäumt war, auf denen rote Ziegel locker ruhten und drohten, runterzustürzen. Hinter der Betonfassade ragten die Dächer bescheidener Behausungen in unterschiedlichen Höhen hervor, steinerne Säulendiagramm. Es stank entsetzlich nach Urin, verwestem Kohl und menschlichen Ausdünstungen. Soo-Jung war froh, wenn er diesen trostlosen Bezirk wieder verlassen durfte. Die Räder drehten sich nun langsamer, da er seinen Bestimmungsort fast erreicht hatte. Gegen ein grünes Metalltor, das der Rost im Laufe der Zeit angenagt hatte, lehnte ein junges Mädchen. Schon aus der Ferne erkannte Soo-Jung, dass sie hübsch war. Je näher er ihr kam, desto schneller pochte sein Herz in der Brust. Doch ihre Schönheit war von Trauer getrübt. Denn matt glänzte ihr Gesicht im Licht. Sie musste noch vor einigen Sekunden geweint haben. Leicht flatterte der schwarze Rock ihrer Schuluniform in der Brise. Völlig in Gedanken verloren, hatte sie Soo-Jung nicht bemerkt, der sich mit der schweren Thermotasche auf sie zubewegte. Endlich hob sie ihr Kinn und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Uniform das feuchte Gesicht ab.

      Warum schämten sich die Menschen für ihre Gefühle? Das machte sie ja gerade zu Menschen.

      „Eine Bestellung für Familie Lee“, sagte Soo-Jung, während er verlegen zu Boden blickte.

      Traurigen Mädchen konnte er nicht in die Augen sehen, obwohl sie sehr schöne Augen hatte. Sie waren zwar schmal, aber es funkelte liebenswerte Güte in ihnen, die Soo-Jung irgendwie tröstete.

      „Ja, das sind wir“, erwiderte sie und nahm die Bestellung entgegen.

      Die zerknüllten Won-Scheine, die ihm das Mädchen mit zarten, gläsernen Fingern überreichte, stopfte er hastig in seine Gürteltasche. Aus dem Haus hinter ihr war Lärm zu vernehmen. Es war das Gebrüll eines zornigen Mannes und das dezente Wimmern eines verängstigten Kindes. Verlegen drehte sich das Mädchen um, wonach sie ihm einen berschämten Blick zuwarf.

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