Killerwitwen. Charlie Meyer
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Emmi fletschte die Zähne und stupste mit der Nase beinahe an den Spiegel. War das Schwarze da unten am Zahnhals Karies? Sie griff nach der dicken Stopfnadel, die für die Fälle bereitlag, in denen die Munddusche versagte. - Nein, kein Karies. Nur ein Mohnkörnchen vom vorabendlichen Brötchen.
Es war wahrlich ein gruseliger Anblick gewesen, als sie Hermann am nächsten Morgen so verrenkt und in dieser gewaltigen Blutlache vor der Gefriertruhe fand. Mit einem Loch im Schädel, in dem gut und gern ihre ganze Faust Platz gefunden hätte - jedenfalls schien es ihr in der Erinnerung so groß, und genau genommen wuchs es sogar noch von Jahr zu Jahr. Und an der rechten oberen Ecke der Truhe klebte geronnenes Blut und noch etwas anderes, etwas Graues, das sie erst später und dann auch nur mit geschlossenen Augen abwischte. Erst einmal hatte sie zu Hermanns Füßen auf der untersten Treppenstufe gehockt und vor der Wucht des Todes ehrfürchtig mit den Zähnen geklappert, bevor sie, immer noch klappernd, in der Lage gewesen war, ins Nachbarhaus zu gehen, um die Taube zu holen. Jochen hatte sich nicht wecken lassen wollen, er kämpfte noch röchelnd mit dem Schnaps. Und die olle Taube stand kopfschüttelnd vor Hermanns Leiche und sagte in ihrer unnachahmlichen Art: „Sie, da müssen Sie man aber gleich die Sanitäter holen, auch wenn er wohl hin is’, der Suffkopp.“
Nach Aussage des von der Polizei beorderten Pathologen war Hermann Nichterlein, von pyknischer Konstitution, mit 3,2 Promille Alkohol im Blut infolge lokomotorischer Ataxie rücklings die Treppe hinuntergestürzt, für ihn, den Pathologen wenig verwunderlich, was zu ... Hier folgten eine Menge weiterer medizinischer Fachausdrücke, die Emmi mühsam hatte nachschlagen müssen, bevor sie herausfand, dass sich auf der Treppe ganz offensichtlich infolge des Suffs Hermanns Beine verheddert haben mussten, sodass er das Gleichgewicht verlor, rücklings die Treppe hinunterstürzte und sich an der Kante der Gefriertruhe den Kopf einschlug. Es verdross Emmi gewaltig, dass sie zum Übersetzten der medizinischen Hieroglyphen zwei Stunden gebraucht hatte, nur um das doch wirklich Offensichtliche bestätigt zu sehen. Und es verdross sie noch mehr, dass sie wegen einiger Wissenslücken ihres Lexikons nicht herausfinden konnte, ob Hermann eigentlich unmittelbar nach dem Aufprall an der Kante der Gefriertruhe gestorben war, oder erst später in der Nacht verblutete. Der Pathologe äußerte sich nur sehr schwammig darüber, vertrat jedoch mit Nachdruck die These, alles zu wissen, sei mitunter nur schädlich, und angesichts des eindeutigen Ergebnisses spiele dieser Punkt doch ohnehin keine Rolle mehr. Womit er ja eigentlich recht hatte.
Das fand Emmi schließlich auch, als sie nach der Obduktion ins Göttinger Klinikum fuhr - in Koppstedt gab es kein Krankenhaus - und einen Strauß roter Tulpen auf das weiße Laken legte, das ihren obduzierten Hermann zwar gnädig verbarg, ihre Fantasie jedoch über Gebühr erregte. Denn da, wo sie sein Gesicht vermutete, am Kopfende der Bahre, zeichneten sich lediglich die Konturen einer langen Nase erkennbar unter dem Tuch ab, während sich der Stoff im Bereich der Wangen, Augen und Lippen ebenso gleichmäßig wölbte wie über dem restlichen Körper. Außerdem schien die Gestalt viel kleiner zu sein als Hermanns. Lag da überhaupt ein Mensch unter dem Laken? Oder nur etwas Aufblasbares aus Gummi mit einer angeklebten Nase, das sie immer für derartige Abschiedszwecke benutzten? Konnte es sein, dass Hermanns Leiche längst in der Anatomie der medizinischen Fakultät der Universität gelandet war und der geschäftstüchtige Krankenhauspathologe zufrieden auf seine Brieftasche klopfte? Rissen sich in diesem Moment bereits die ersten Studenten um seine Arme und Beine? Und wer bekam wohl den Kopf? Der Primus oder der Herr Professor persönlich? Das alles war ihr in den Minuten dieses seltsamen Abschiedes durch den Kopf gegangen, und sie hatte sich tatsächlich beunruhigt gefühlt. Heute konnte sie über ihre kleinlichen Bedenken nur lächeln.
„Früher oder später wäre er ohnehin gestorben“, nuschelte der Pathologe nervös, schob sich zwischen sie und die Bahre und weigerte sich nachdrücklich, auch nur einen Fuß von dem Ding unter dem Laken aufzudecken, was ihre düsteren Befürchtungen noch verstärkte. „Fortgeschrittene Leberzirrhose! Äh ... wirklich wunderschöne Tulpen, die sie da mitgebracht haben.“
Hermann hatte Tulpen gehasst.
Emmi seufzte schwer und steckte sich zwei Haarklemmen hinter die Ohren. Der Strauß roter Tulpen war wirklich gemein gewesen. Damals, an dem Bett mit der spitzen Nase unter dem Laken - wem auch immer sie gehört haben mochte - da brach sie bei der Nachricht von Hermanns Leberzirrhose dann doch noch in Tränen aus und musste sich vom Pathologen ein Taschentuch leihen. Die plötzliche Erkenntnis, Hermanns tödlicher Sturz habe sie vor einem sabbernden Ehemann bewahrt, der auf der Suche nach Alkohol mit tropfender Unterlippe auf allen vieren durchs Haus krabbelte, krachte in ihre Fassung wie die Abrissbirne in eine Hausfassade. Mein Gott, was für eine grauenvolle Vorstellung!
Nein, Hermann, keinen einzigen Schluck Alkohol mehr, hat der Doktor gesagt. Nein, auch keine Schnapspraline. NEIN HERMANN!!! Und hör sofort auf, mir die Füße zu lecken.
Vor lauter Dankbarkeit hatte sie wegen der Tulpen bitterlich geweint.
Aber nicht lange. Mit Christinas Umzug nach Göttingen und Hermanns Umzug auf den Koppstedter Waldfriedhof - falls denn tatsächlich Hermann in dem Sarg lag und keine Gummipuppe - brach ein neuer, ein herrlicher Lebensabschnitt an. Der berühmte Silberstreif am Horizont blitzte verlockend. Aufstehen ohne Hermanns röchelndes Schnarchen neben sich - sein Alkoholspiegel rutschte meist erst gegen Mittag auf ein für alle erträgliches Maß ab - keine Meckereien der Kinder am Frühstückstisch („Wieso ist keine Orangenmarmelade da?“ „Käse? Nein danke, mir ist schon schlecht!“). Dafür einen zweiten Stuhl, um die Beine hochzulegen, das Marktblättchen mit den Wochenangeboten neben der Kaffeetasse, die Glanzpapierprospekte des Bauer’schen Kaufhauses und natürlich Hermanns geheiligten Anzeiger für‘s Koppstedter Land. Ein Ei, ein Brötchen mit Käse, vielleicht noch eins mit Schinken und jede Menge Zeit. Zum Mittagessen gab es ‚Himmel und Erde‘ („Schnell Hermann, Julia spuckt schon wieder!“), Puffer und Pfannkuchen (Stefan vertrug kein Fett und David keine Eier), Steckrüben („Mein Gott, Emmi, der Krieg ist vorbei!“) und Milchreis mit Zimt und Zucker („Hör auf der Stelle auf, diese unanständigen Geräusche zu machen, Christina!“).
Emmi leckte die Kuppe ihres Zeigefingers an und schob die Augenbrauen in Form. Eigentlich wiesen sie immer noch eine schöne Rundung auf, wenngleich die Brauen, wie alle haarigen Stellen ihres Körpers, im Laufe der Jahrzehnte merklich ausgedünnt waren. Aber immerhin, die Blum vom Ende der Sackgasse war sogar vollständig kahl über den Augen, und diese zwei dicken schwarzen Striche, verzweifelt in die Stirn gemalt, sahen wirklich abstoßend aus. Ganz zu schweigen von der billigen blonden Perücke auf der Glatze und diesen furchtbar aufgeschwollenen Lippen. Die olle Taube behauptete ja, die Blum habe sich auf Mallorca was beim Baden geholt. Fest stand nur, dass sie eines Tages glatzköpfig und dicklippig aus dem Urlaub zurückkam und seitdem fast so grimmig guckte wie ihr Nachbar, der magenkranke Brunner.
Ich sollte sie mir doch endlich abschneiden lassen, dachte sie und drehte den Kopf, um die trotz Ausdünnung doch noch recht stattliche graue Schnecke kritisch zu beäugen. Obgleich Dutts, in welcher Form auch immer, ja schon wieder als schick galten. Jedenfalls für die Jungschen. Das fortschrittliche Alter trug praktische Windstoßfrisuren, die rückständige Jugend Dutts und sogar Ohrschnecken.