Killerwitwen. Charlie Meyer

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Killerwitwen - Charlie Meyer

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Gott, sie ging ja damals auch nur zu den Abenden, um die Kinder nicht zu enttäuschen, denn der Sinn ihres Lebens war ihr mitnichten abhanden gekommen nach Hermanns Tod. Im Gegenteil, zum ersten Mal seit Langem genoss sie doch die Tage vom morgendlichen Erwachen bis hin zur abendlichen Lesestunde im Bett und fühlte sich rundherum wohl. Jedenfalls bis zu jenem denkwürdigen Abend, an dem der Spitzbart, in leichter Abwandlung seines Kursthemas, damit begann, nach den psychosozialen nun auch die medizinischen Gefahren des Alterns aufzuzählen. Im Verlauf der folgenden sechzehn Doppelstunden schlich sich nicht nur bei Emmi der Virus der Erkenntnis ein, an weit mehr als den üblichen Zipperlein zu leiden. Während sie alles über Altersdiabetes, Lungenemphysem, degenerativen Veränderungen am Stütz- und Bewegungsapparat, Arteriosklerose, Zerebralsklerose, Koronarsklerose, Nephrosklerose, Raucherbeine, Herzinsuffizienz, Bluthochdruck, Gicht und Emphysembronchitis lernten, neigte der Ausdruck auf den Gesichtern der Kursteilnehmer mehr und mehr zu spontaner Verschrecktheit. In den Pausen begann sich die Gruppe, krankheitlich vorsichtig abzutasten und mit zunehmendem Mut gar zu überbieten. Am Ende des Kurses gab es einschließlich Emmi keinen Kursteilnehmer mehr, der sich guten Gewissens gesund nennen durfte, und die letzte Kursstunde diente denn auch der kritischen Aburteilung Koppstedter Arztpraxen aufgrund einer Werteskala von eins bis zehn. Dann verabschiedete sich der weise Medizinstudent mit den unheilschwangeren Worten Nascentes morimur – Kaum geboren sterben wir - und sie schüttelten ihren Banknachbarn die schweißigen Hände, blickten sich gegenseitig in ihre schicksalsergebenen Gesichter und schlurften von der Last ihrer Jahre gebeugt nach Hause.

      Emmi schüttelte den Kopf. Ob alle Teilnehmer des Kurses noch lebten? Der spitzbärtige Medizinstudent war jedenfalls zwei Wochen später im Fernsehen gewesen. Na ja, eigentlich nur sein Auto auf der Allee zwischen Koppstedt und Göttingen. Ein zerknäuelter rauchender Blechhaufen an einer unbeteiligt wirkenden Platane. Nascentes morimur.

      Sie konnte sich noch daran erinnern, dass schon während des Kursus die ersten Schlafstörungen und Verdauungsprobleme auftraten, im rechten Ohr plötzlich ein Tinnitus pfiff, und Christina sagte, ihre Seele fände keine rechte Balance mehr zwischen Yin und Yang. Es half auch nichts, Kalorientabellen und Klosterfrau Melissengeist zu kaufen, vom Schwein die Schwarte zu schneiden und rohe Mohrrüben zu mümmeln, bis sie glaubte, ein Kaninchen zu sein. Und die Kinder begannen am Telefon zunehmend verhaltener zu reagieren, wenn sie versuchte, ihnen diesen seltsamen Dauerton zu erklären, der ihr rechtes Trommelfell in Schwingungen versetzte, und als David überraschend vorbeikam („Nach dem Rechten sehen wollte“, wie er verlegen murmelte), brachte er auch für ihre Verdauungsprobleme nicht das rechte Verständnis auf.

      „Wie wär’s denn mit einem Volkshochschulkurs über Handarbeiten?“, fragte er hoffnungsvoll, bevor er wieder nach Frankfurt zurück düste.

      Und sie? Sie saß damals lange Abende ergeben im Wohnzimmer, dachte über das Phänomen nach, noch ein halbes Jahr zuvor beschwerdefrei gewesen zu sein, während es in ihrem Ohr ununterbrochen rauschte und bimmelte und beschloss, einen Arzt zu konsultieren. So machte sie die Bekanntschaft von Doktor Kühne, weil der Frisch bereits am Schlag verstorben war. Treten Sie einem Chor bei, Frau Nichterlein. Dann hören Sie den Tinnitus nicht mehr! Was für ein Dämlack. Wo doch die Rieffenbachs so unmusikalisch krächzten wie ein Rudel heiserer Raben und auch sonst eine gewisse Distanz zu den schönen Künsten hielten. Mit Ausnahme vielleicht von Uronkel Heinrich, dem bei genauerer Betrachtung ein verhaltenes Maß an künstlerischer Begabung nicht abzusprechen war. Es gab da eine fast vergilbte Daguerreotypie, die ihn am Ostseestrand von Heringsdorf vor einer Sandburg zeigte, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Neuschwanstein besaß.

      Emmi lächelte in Erinnerung. Jedes Rieffenbach’sche Kind war mit Uronkel-Heinrich-Geschichten aufgewachsen. Wie er als Junge in Garmisch-Partenkirchen versuchte, den Wetterhahn von der Kirchturmspitze zu stibitzen und von der Bergwacht gerettet werden musste, wie er während seiner Marburger Studienzeit mit einer selbst gebastelten Rakete versehentlich den hoffnungsvollsten Achter der Verbindungsruderer versenkte, und wie er schließlich, nach Dutzenden ähnlicher Streiche von der Verwandtschaft nach Amerika geschickt wurde, wo ihn nach seiner Ankunft in der Matagorda Bay die Cholera jämmerlich dahinraffte. Uronkel Heinrich war ohne Frage der exzentrischste Rieffenbach gewesen, wenn auch nicht weniger unmusikalisch als der Rest der Familie.

      Emmi jedenfalls hatte an einen Chor keinen Gedanken verschwendet, da ihr Ohrgebimmel sie jedoch in den Wahnsinn zu treiben drohte, in einem verzweifelten Ablenkungsmanöver weitere Volkshochschulkurse belegt. Sie töpferte, klöppelte und makrameete, und die Stimmen der Kinder am Telefon klangen gleich viel wohlwollender. Nur, dass sie diesmal zu Weihnachten keine gefüllten Briefumschläge verschenkte, sondern selbst getöpferte Aschenbecher, geknüpfte Blumenampeln und bestickte Topflappen, dämpfte die wohlwollende Stimmung vorübergehend. In den folgenden Jahren malte sie mit bimmelndem Ohr Obstschalen in Öl, Blumensträuße als Aquarell und sogar nackte Männer in Bleistift. Sie grub Maulwürfe aus ihren Gängen, suchte mit Metalldetektoren Stoppelfelder nach römischen Münzen ab und fand eine Handvoll germanischer Speerspitzen, lernte chinesische Schriftzeichen und isländische Vokabeln und belegte schließlich in einem letzten verzweifelten Versuch den Kurs: Lateinische Redewendungen für den Hausgebrauch. Sie gewöhnte sich daran, mehrere Abende in der Woche in dumpfen Klassenzimmern zu hocken und glaubte bereits eine leichte Verbesserung des Tinnitus zu verspüren, als ihrer Jüngsten, Christina, plötzlich der Sinn menschlicher Existenz abhanden kam, ganz allgemein, aber auch höchst persönlich, und sie auf der Suche nach einem weisen und hilfsbereiten Guru nach Indien flog und irgendwo in den Häuserfluchten Bombays verschwand.

      Emmi schob die Nase näher an den Spiegel heran und starrte sich in die Pupillen. Ein seltsames Gefühl zu wissen, dass die linke Linse künstlich war. Man schnitt ganz einfach in den Augapfel, zog mit einer Pinzette die eigene, die natürliche Linse heraus, schob etwas Künstliches in den Schnitt und nähte ihn wieder zu. Einfach so. Ersatzteilchirurgie. Nur wäre die nicht nötig gewesen, wenn der Oberarzt beim Starstechen eine Lupe verwendet hätte. Und das Starstechen wäre nicht nötig gewesen, wenn Christina in Indien nicht so plötzlich aufgehört hätte, Ansichtskarten zu schreiben. Und daran konnte nur dieser mysteriöse Guru schuld sein.

      Was für eine aufregende Zeit. Obgleich sie selbst sich anfangs nicht die Bohne sorgte, Christina neigte schließlich von klein auf zu ungewöhnlichen Handlungen, die absonderlichen Gehirnwirren entspringen mussten, gingen die Anrufe besorgter Verwandte und Freunde und die ständigen Erkundigungen der Nachbarn nicht spurlos an ihr vorüber.

      „Hast du denn immer noch nichts von deiner Tochter gehört?“

      „O Gott, sie hat dir vor vier Wochen die letzte Karte geschrieben? Das ist ja entsetzlich!“

      „Indien? Ist das nicht da, wo die Hisbollah immer Touristen ermordet?“

      „Warum unternimmst du denn nicht endlich was? Was bist du nur für eine Rabenmutter! Deine Tochter könnte ermordet irgendwo in einem Graben liegen und du ...?“

      „Ich habe gerade in den Nachrichten gehört, dass es im Norden entsetzliche Erdrutsche geben soll nach all dem Regen im Himalaja!“

      „Wusstest du eigentlich, dass der Ganges von Piranhas nur so wimmelt? Was wenn ...“

      „Meinst du nicht, du solltest die deutsche Botschaft verständigen?“

      Schließlich steckte sie die allgemeine Panik dann doch an, und das Schicksal nahm seinen verhängnisvollen Lauf.

      So hockte sie eines Nachts schlaflos am Wohnzimmerfenster und schniefte in Gedanken wieder einmal an einem von Christinas unzähligen und fernöstlich geschmückten Gräbern, als mit einem Mal draußen grellbunte Regenbögen die strahlenden Köpfe der Straßenlaternen umtanzten. Außen rot und innen violett und dazwischen gelbe und blaue Kreise. Es sah wunderschön aus, doch dann schien ihr Kopf zu platzen, und sie raste mit einem Taxi ins Göttinger Klinikum.

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