Killerwitwen. Charlie Meyer
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An den Abenden dann häkelte und strickte sie sich nach Tagesschau durch den Spielfilm, las bis weit nach Mitternacht und stopfte, Hermann ab und an eine grimmige Grimasse schneidend, Unmengen von Negerküssen in sich hinein. Manchmal kramte sie auch die Puzzle der Kinder wieder heraus und träumte sich unter die mühselig zusammengesetzten Palmen. Emmi lächelte. Was für eine wunderschöne Zeit! Friedvolle Wochen, Monate und Jahre, nur unterbrochen von den sonntäglichen Anrufen ihrer Sprösslinge, die damals noch fröhlich und unbeschwert klangen und voll kindlichem Eifer von ihren Unternehmungen berichteten. Davids plötzlicher Wechsel aus dem Natur- und Grünflächenamt zur Streifenpolizei, der erste Schlagstockeinsatz gegen aufmüpfige Gastarbeiter, sein erster Krankenhausaufenthalt, Julias Plan mit ihrem Ökobauern eine Fußballmannschaft zu zeugen, Christinas Engagement in der AKW-Nein-Bewegung und ihr erster umgekippter Güterwaggon auf dem Göttinger Bahnhof, der sie für vierundzwanzig Stunden in Untersuchungshaft brachte.
„Hallo, Mama, du sollst als Erste erfahren, dass ich schwanger bin. Na ja, nach Rupert natürlich.“ - „Hast du mein Bild nicht in der Zeitung gesehen, Mutti? Ich bin die ganz oben auf dem Castor-Behälter. Wow, ich sage dir, das war irre!“ - „Nein, Mama, wirklich nichts Ernstes. Nur fünf Stiche am Kopf und ein paar Brandwunden vom Molotowcocktail. Aber glaub‘ mir ruhig, diesem Pack haben wir es ordentlich gegeben.“
Und in ihrem Eifer überschlugen sie sich geradezu in ihrer Fürsorge um sie selbst. „Geht’s dir wirklich gut?“ „Also, meiner Meinung nach solltest du doch mal zum Arzt gehen!“ „Mit so einer Erkältung ist nicht zu spaßen, Mama.“ „Also, David sagt auch ...“ „Vielleicht komm ich ja mal am Wochenende vorbei!“ „Die selbst gehäkelten Hausschuhe sind klasse - äh - ehrlich!“
Emmi zog sich die Lippen in einem dezenten Altrosa nach. Wie spröde sie waren. Der Kühne, dieser Scharlatan, behauptete natürlich, sie würde zu wenig trinken und außerdem neige ihre Haut ohnehin zu pathologischer Trockenheit. So ein Unsinn. Keine geborene Rieffenbach neigte jemals zu pathologischer Trockenheit. Sie runzelte verärgert die Stirn, und das ganze Gesicht runzelte sich mit.
Ob sie sich damals wirklich zu passiv verhielt, als sie die Kinder am Telefon einfach reden ließ, um ihres eigenen Seelenfriedens willen, und über den hanebüchenen Unsinn nur stumm den Kopf schüttelte. Julia hielt ihr sogar heute noch die fehlende mütterliche Unterstützung vor. Aber was um Himmels willen hätte sie sagen können? Aber ja, liebe Julia, in der heutigen Zeit gibt es nichts Schöneres, als elf arbeitslose Söhne und Töchter durchs Leben zu schleppen. Meinst du nicht, liebe Christina, es sei weit wirkungsvoller sich in einen Castor-Behälter zu setzen als nur oben drauf? Mein lieber Junge, du solltest nicht nur diese aufmüpfigen Gastarbeiter niederknüppeln, sondern alle Ausländer. - O nein, die Kinder mussten lernen, eigene Entscheidungen zu treffen, und wenn sie deshalb aus Enttäuschung über ihre Zurückhaltung seltener anriefen, bitte schön, sie konnte damit leben. Die Ausreden, zu denen ihr schlechtes Gewissen sie trotz allem zwang, waren natürlich albern.
„Entschuldige, ich wollte ja schon vor vier Wochen anrufen, aber erst war unser Telefon kaputt - es kam einfach kein Freizeichen, weißt du - und als das Telefon endlich wieder funktionierte, also das glaubst du nie, da biss doch das Meerschweinchen die Schnur durch ... Ist das nicht ulkig?“
Sehr ulkig! Pubertäre Rückfälle mit einem Hang zu ausschweifender Fantasie und die aggressive Reaktion auf ihre vorsichtigen Fragen ein klarer Ausdruck ihres schlechten Gewissens.
„Mein Gott, Mutter, ich habe nicht gesagt, Alice habe abgetrieben, sondern nur, dass wir beide vorerst keine Kinder wollen.“ „Nein, Raoul hat Durchfall und keine Würmer und wir haben auch keine Kräuterfrau geholt, sondern einen approbierten Arzt!“ „Ach du große Neune, das hast du ganz falsch verstanden, eine Wünschelrute ist nicht dasselbe wie ein Dildo.“
Kinder!
Und Ende der Achtziger schummelte sich zu allem Überfluss neben aggressiver Ungeduld und weinerlichem Vorwurf ein neuer Ton ein. Eindringliche Beschwörung, die schon fast an Panik grenzte.
„Hör zu, du bist schon über sechzig, da kannst du doch nicht einfach so in den Tag hineinleben!“ „Warum gehst du nicht öfter mal weg, ins Theater oder so?“ „Es werden doch so viele Butterfahrten angeboten, warum meldest du dich da nicht an?“ „Mein Gott, Mutter, entschuldige, wenn ich dir das sagen muss, aber solltest du deinem Leben nicht einen neuen Sinn geben?“ „Es ist doch nur, weil wir uns um dich sorgen!“
Emmi wischte sich den Lippenstift vom Kinn und verzog das Gesicht. Für wen schminkte sie sich eigentlich? Es kam ja doch keiner.
Nicht so wie am ersten Weihnachtsabend zur Dekadenwende, als sie niemanden erwartete, weil alle bereits im November ihre Ausreden parat hielten, und schon bettbereit, im Morgenmantel und mit offenen Haaren die Haustür öffnete, während auf dem Tischchen neben Hermanns Lieblingssessel ein letzter Becher Tee dampfte und das Weihnachtsrätsel des Anzeigers wartete. Da standen sie, Julia, Christina und David, und ihre Züge entgleisten förmlich bei ihrem Anblick. Sie schafften es gerade noch im Chor, ein einstudiertes Überraschung zu krächzen, dann drängten sie sich schon peinlich berührt an ihr vorbei in den Flur, und als sich bei Meiers gegenüber die Terrassentür öffnete, wurde sie hastig von der Türschwelle gezerrt. Als sie ihnen zehn Minuten später mit Kleid und Dutt erneut gegenübertrat, fläzte sich David in ihrem Sessel, Christina nippte an ihrem Tee, und Julia zupfte an einem mitgebrachten Weihnachtsstern herum, dessen feuchter, erdiger Topf die Rätselseite des Anzeigers braun färbte.
Es war dann doch noch ganz nett geworden. Christina schmückte die Hauspalme mit Lametta, Julia spielte auf einer Blockflöte O du fröhliche, David brummte Unverständliches dazu, Emmi nestelte hastig Hunderter in Briefumschläge - und bekam - welch Wunder - in einem Moment schweigender Ergriffenheit ihrer Kinder ebenfalls einen Briefumschlag in die Hand gedrückt. Ohne Geldschein zwar, aber mit der Anmeldebestätigung für einen Volkshochschulkurs: Wie ich meinen Lebensabend sinnvoll gestalte. 30% Seniorenermäßigung.
„Aufsprengen der Isolation“, hatte Christina, die gerade mit dem Gedanken spielte, ihr Amerikanistik-Studium gegen Psychologie einzutauschen, David ins Ohr geflüstert und ihren Hunderter im Strumpf verschwinden lassen. „Ab einem gewissen Alter schaffen’s die Leute nicht mehr selbst, und wenn man sie drin lässt – pathologische Fälle!“
„Ich hätte ihr gleich eine scheuern sollen“, murmelte Emmi wütend und setzte sich auf den Toilettendeckel, um die Nylonsocken überzustreifen.
Aber eine gewisse Rührung und die, wenn auch erst verspätete Freude über diesen unerwarteten Weihnachtsabend im Kreis ihrer Kinder überwogen an jenem Tag ihren Ärger, und sie hatte sich taub gestellt und Anfang Januar mit dreißig unglücklich dreinblickenden Senioren in einem stickigen Klassenraum des Koppstedter Mädchenlyzeums wiedergefunden, wo ein spitzbärtiger Medizinstudent breitbeinig auf dem Lehrerpult hockte, den langen knochigen Oberkörper wohlwollend der Klasse zugeneigt, und mit gewichtig tremolierender Stimme fragte: Warum altern wir? Nach zweimal fünfundvierzig Minuten einseitigen Philosophierens, lediglich von einer fünfminütigen Verschnaufpause unterbrochen, entschied er sich vor einer mühsam die Augen offen haltenden Klasse für die Schicksalstheorie, handelte in der zweiten Woche die psychosozialen Gefahren des Alterns ab, als da seien Verwahrlosung,