Rabenflüstern. Philipp Schmidt

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Rabenflüstern - Philipp Schmidt

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»Nicht ganz. Lass es uns endlich tun.«

      Am Mittag des nächsten Tages betrat Kraeh übernächtigt die Audienzhalle seines Fürsten.

      Bran wirkte einsam und müde, wie er da allein an der großen Tafel seiner Vorfahren saß. Aber seine Stimme war fest und bestimmt, als er seinen zweiten Krieger ansprach.

      »Ich bin froh, dich zu sehen, Kraeh. Ich bin mir im Klaren darüber, dass böse Zungen dieser Tage schlecht über mich reden. Umso wichtiger sind in solchen Zeiten loyale Männer wie du.«

      Der Auftritt in der Schenke hatte allem Anschein nach Wirkung gezeigt. Bran erhob sich und legte väterlich einen Arm um Kraehs Schultern. Er hatte sein glattes, braunes Haar zu einem Zopf gebunden. Gemächlichen Schrittes führte er ihn an den Gemälden der Altvorderen vorbei, deren Augen Ehrfurcht gebietend von beiden Seiten der Halle durch die Zeiten hindurch auf sie hinabblickten.

      »Wir sind in einem Zustand der Schwäche, mein junger Freund. Ohne Einigung, ohne Hochkönig sind wir gefundenes Fressen für all die Wilden und Ruchlosen, die mit Neid auf unsre Ländereien schielen. Spione berichten, unter den Orks habe sich ein Kriegsherr hervorgetan, stark genug, die Stämme unter seinem Banner zu einen.«

      Bran hielt vor dem ältesten der Bilder inne. Kraeh war das Abbild vertraut. Es war das unbeugsame Antlitz Hildebrands des Eroberers, das selbst vergilbt noch immer Stärke und Lebendigkeit ausstrahlte.

      »Was weißt du von dem Lia Fail?«, fragte Bran eindringlich.

      Ohne nachzudenken, antwortete der Krieger, er kenne die alten Geschichten. »Der Stein der Könige. Man sagt, durch seine Kraft sei das Reich der Rheinherren errichtet worden. Hildebrand habe, so sagt man, ihn von den Nornen selbst erhalten, die Orks auf die andere Seite des Flusses getrieben und die Grenzen gesteckt, wie sie heute noch sind. Wie er den Nornen versprochen hatte, behielt er den Stein nicht für sich, sondern schenkte ihn dem, den er für den Würdigsten hielt, die Bürde des Königtums zu tragen – König Giselmund.« Kraeh fiel auf, dass dessen Abbild fehlte. Er mutmaßte es in Triberkh, dem Sitz der Könige.

      »Und weiter?«, forderte der Fürst ihn auf.

      »Die Nornen, betrügerisch und rachsüchtig, entsagten den Menschen. Und der Stein der Macht verschwand in den dunklen Fluten des Rheins. Seither ward er nie mehr gesehen«, zitierte er die letzten Zeilen eines beinahe in Vergessenheit geratenen Volksliedes, das sein Ziehvater ihm beim Fischen oft vorgesungen hatte.

      Bran lächelte. »Aber er ist wieder aus den Fluten aufgetaucht. Weit im Norden, wo die Dänen herrschen, sitzt eine Bestie auf ihm, man nennt sie Siebenstreich und sie versklavt die umliegenden Völker.« Langsam begann Kraeh zu verstehen, während Bran fortfuhr: »Seine Macht würde uns Frieden bringen. Was meinst du? Bezwingt die Krähe Fluss, Meer und Bestie und schenkt ihrem Land Einigkeit?«

      Stille folgte, das Schweigen füllte die kühle Halle mit Schicksalsschwere. Selbst die Kerzen schienen den Atem anzuhalten.

      Inse, Brans Frau, betrat die Halle und reichte den Männern wortlos mit Met gefüllte Hörner. Kraeh bedankte sich, während Bran die füllige Frau, deren einzige Bestimmung er darin sah, ihm gesunde Nachfahren zu gebären, wie meist ignorierte. Trotz ihrer emsigen Versuche, dieser Erwartung nachzukommen, hatten all ihre Schwangerschaften in Totgeburten geendet. Dennoch ließ Bran keinen Zweifel daran, dass ihre Stellung an seinem Hof sicher war. Für einen Fürsten gab es genug andere Möglichkeiten, sich um Nachkommenschaft zu kümmern. Sie konnte also durchaus zufrieden sein mit ihrer Lage. Nur gelegentlich, wie jetzt gerade, schien sie unter der geringen Zuwendung ihres Ehemannes zu leiden. So unscheinbar, wie sie gekommen war, huschte sie wieder von dannen und ließ die Männer allein. Kraeh nahm einen tiefen Schluck.

      »Ich diene dir, mein Fürst«, brach der Krieger die Stille, »doch sage mir, wem wird der Stein zum Ruhm verhelfen, falls ich ihn dir bringe?«

      Bran winkte ab, als ob Kraeh nicht richtig verstanden hätte. »Theodosus, Maet, mir – es spielt keine Rolle. Wir müssen die alten Zwistigkeiten beilegen, wenn wir überleben wollen.«

      Nachdenklich nickte der Krieger. »Ich beschaffe dir den Stein. Wann soll die Reise beginnen?«

      Bran klopfte ihm auf den Rücken. »Das ist mein Mann! So schnell wie möglich. Zwei Schiffe werden bereits beladen. Berbast bringt dich bis zur See, danach bist du auf dich allein gestellt.«

      »Berbast …«

      Bran ließ ihn nicht aussprechen.

      »Keine Widerrede. Du wirst ihn brauchen. Orks lauern an den Ufern, der Drudenzirkel hat seine Ohren und wie wir erleben mussten, auch seine Dolche überall; und die wilden Stämme lechzen nach allem, was ihre Grenzen passiert, um Beute zu machen.«

      Kraehs Missfallen war nicht zu übersehen. Orks und Wilde kümmerten ihn nicht. Ebenso wenig der Spionagearm der Hexenkönigin, dem Bran wohl die Ermordung Gunthers zuschrieb. Die Aussicht hingegen, den gehassten General wieder einmal an seiner Seite zu haben, machte ihn innerlich rasend. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, Bran von seinem Entschluss abzubringen.

      »Und was ist mit dir? Wer schützt die Mauern Brisaks?«

      Bran wurde ungehalten. »Ich bin nicht nur Fürst dieses Landes, weil ich gut reden und trinken kann. Ich weiß noch immer ein Schwert zu schwingen.«

      »Natürlich, verzeiht«, lenkte Kraeh schnell ein. »In der Nacht von Ostera setzen wir Segel. Selbst wenn die Druden und der Zirkel wissen, was wir vorhaben, werden sie nicht erwarten, dass wir in jener Nacht aufbrechen.«

      »So soll es geschehen«, stimmte Bran zu und versank in dem Abbild seines Urahns.

      Die Festlichkeiten zur Sonnwende würden in zwei Tagen stattfinden; Zeit genug, ausreichende Vorbereitungen zu treffen.

      Kraeh wandte sich zum Gehen.

      »Eins noch.«

      »Ja?«

      »Pass auf dich auf. Mögen die Götter ihre schützenden Hände über dich halten.«

      Kraeh beugte sein Haupt in Andeutung einer Verbeugung und verließ die Halle.

      ***

      Zuerst hatte sich Rhoderik mit den Kindern querfeldein durch dichte Tannenwälder nach Westen bewegt. Nach mehreren Tagen hatte er jedoch beschlossen, das Wagnis einzugehen, einem Bergpfad zu folgen, der sie seiner Erinnerung nach auf die dem Rhein vorgelagerten Ebenen führen würde. In den Tagen, da er als junger Krieger diese Gebirge durchwandert hatte, war es Brauch gewesen, die in regelmäßigen Abständen unweit der Wege gelegenen Zufluchtsstätten, meist Blockhütten oder windgeschützte Verschläge, für den nächsten Reisenden mit Nahrungsmitteln und Feuerholz zurückzulassen. Er hoffte inständig, dass sich diese Sitte erhalten hatte. Ihr Proviant wurde knapp und die Kinder froren nachts, doch er wagte es nicht, jagen zu gehen, und nur selten ein Feuer zu entzünden. Es war hart für sie, tagein, tagaus zu laufen, und zehrte an den Kräften ihrer jungen Körper, die den wenig anstrengenden Alltag des Hoflebens gewöhnt waren. Obgleich sie ihn für die aufgezwungenen Strapazen hassten und ihn ihre Ablehnung bei jeder Gelegenheit spüren ließen, erfüllte es sein Herz mit Stolz, mit welcher Ausdauer sie mit ihm Schritt hielten. Gunther zählte sieben Sommer, Heikhe elf, doch sie marschierten wie junge Krieger auf dem Weg zur ersten Schlacht. Vielleicht, dachte er, lag es auch an ihm. Abends schmerzten seine Waden und am Morgen spürte er jeden Stein und jede Wurzel, auf der er gelegen hatte. Er verbot sich derlei Gedanken. Erst wenn die

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