Der Waldläufer. Gabriel Ferry
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»O mein Gott«, rief sie, »Don Estévan, seid Ihr verwundet? Señor Cuchillo, Señor Arechiza – um der Liebe der Heiligen Jungfrau willen, zieht euch zurück! Niemand möge erfahren, daß ein Verbrechen in unserem Haus begangen worden ist!«
Diese Vermittlung des jungen Mädchens, dessen Busen sich unter dem feinen Hemd hob und senkte; das mit aufgelösten Flechten und auf den Nacken zurückgeworfenem Schleier in seiner stolzen und wilden Schönheit ehrfurchtgebietend dastand, war allmächtig. Die Messer kehrten in ihre Scheiden zurück. Cuchillo murrte wie eine Dogge, der man einen Maulkorb angelegt hat, Don Estévan beharrte in düsterem Schweigen; beide entzogen sich dem Lichtkreis, kehrten in den Schatten zurück und verschwanden.
Nur Tiburcio blieb mit trotziger Stirn, funkelndem Auge und einem lebhaft durch den Glanz der Fackel erleuchteten Antlitz allein auf dem Kampfplatz zurück. Allmählich jedoch nahm diese stolze Haltung des Mannes, der sich größer fühlt mitten in der Gefahr, beim Anblick Rosaritas einen melancholischen Ausdruck an.
Auch Rosarita erbleichte unter der Rückwirkung ihrer Gemütsbewegungen und verhüllte züchtig und ganz verwirrt durch das neue Gefühl, das in ihr erwacht war, ihren entblößten Busen und ihre Schultern mit den Falten ihres Rebozos.
»Rosarita«, sagte Tiburcio sanft, »ich hätte vielleicht – so ausdauernd ist die Hoffnung! – an Euren Worten gezweifelt, aber Eure Handlungen haben deutlicher gesprochen. Gerade zu meinen Feinden seid Ihr zuerst geeilt, und doch floß mein Blut! Seht, es fließt immer noch!«
»Gott weiß, ob ich diesen Vorwurf verdient habe!« sagte das junge Mädchen mit einer Gebärde des Schreckens beim Anblick der Blutflecken im Sand; es näherte sich, um sich selbst von der Gefährlichkeit der Wunde zu überzeugen.
Tiburcio wich zurück. »Es ist zu spät!« sagte er mit einem das Herz zerreißenden Lächeln. »Das Unglück ist geschehen! Lebt wohl! Ich bin zu lange Euer Gast gewesen; die Gastlichkeit Eures Daches war unheilbringend für mich. Mein Leben ist hier bedroht, meine teuersten Hoffnungen sind hier vernichtet.«
Mit diesen Worten näherte er sich einer Öffnung in der Ringmauer. Hundert Schritt davon erhoben sich düster und schwarz die ersten Bäume des Waldes; das geheimnisvolle Licht, das Tiburcio schon im Laufe des Abends aufgefallen war, warf schwache Strahlen wie die eines Sterns durch die Zwischenräume der Baumstämme.
»Was wollt Ihr tun, Tiburcio?« sagte Rosarita, die Hände faltend, während infolge der verschiedenen Gefühle, die auf sie einstürmten, ihre Augen gegen ihren Willen von Tränen naß wurden. »Das Dach meines Vaters wird Euch schützen!«
Tiburcio schüttelte verneinend das Haupt.
Rosarita fuhr fort, indem sie die Hand gegen den Wald ausstreckte: »Aber dort, allein und ohne Verteidigung, erwartet Euch der Tod!« Dann gab sie ihrer Stimme jene überzeugende Sanftheit, die den Entschluß eines Mannes in Unschlüssigkeit verwandelt. »An welchem Ort würdet Ihr Euch auch besser befinden als in meiner Nähe?« sagte sie traurig.
Die Energie Tiburcios wankte bei diesem Klang der geliebten Stimme. Er stand still. »Wohlan! Rosarita, sagt ein Wort; sagt, daß Ihr meinen Gegner haßt, wie ich ihn hasse, und ich bleibe!«
Ein heftiger Kampf schien in der Seele Rosaritas vor sich zu gehen; ihr Busen wogte rasch auf und nieder, sie umhüllte Tiburcio mit einem langen, zärtlichen, vorwurfsvollen Blick – aber sie blieb stumm.
»So lebt denn wohl!« rief Tiburcio. »Ich habe aufgehört, Euer Gast zu sein.« Und er sprang über die Mauer, ehe nur das junge Mädchen sich dieser Tat hätte widersetzen können.
Betäubt von diesem nicht vorhergesehenen Ausgang stieg sie auf den Schutt, der am Fuß der Mauer aufgehäuft lag, beugte sich über die Ringmauer hinaus und rief: »Tiburcio! Tiburcio!« Aber ihre Stimme verlor sich in der Nacht, ohne daß der sie einer Antwort würdigte, an den sie sich gewandt hatte – er entfernte sich raschen Schrittes.
Sie hörte noch einige Augenblicke den Klang seiner Schritte; aber dieses Geräusch erreichte bald nicht mehr das Ohr des jungen Mädchens, das niederkniete und betete: »O mein Gott, laß nicht durch diesen jungen Unbesonnenen, der fortgeht, ohne mich zu hören, deinen Fluch auf unser Haus kommen! O mein Gott, beschütze ihn vor den Gefahren, die ihn bedrohen! Wache über ihm, denn ach, er nimmt mein Herz mit sich fort!«
Dann vergaß Rosarita in ihrem Schmerz ihre Pläne künftiger Größe, den Willen ihres Vaters, die gegebenen Versprechungen und alle jene trügerischen Täuschungen, die den lauten Schrei einer Liebe zum Schweigen gebracht hatten, von der sie bis jetzt noch keine Ahnung gehabt hatte; sie erhob sich rasch, stieg abermals auf die Trümmer und rief mit herzzerreißender Stimme: »Tiburcio! Komm zurück! Ich liebe nur dich allein!«
Aber ihre Stimme weckte kein Echo. Sie hüllte sich in ihren Rebozo und weinte. Ehe sie wieder in ihr Zimmer zurückkehrte, warf sie noch einen letzten Blick nach der Richtung hin, die Tiburcio eingeschlagen hatte, um den vielleicht noch einmal zu sehen, auf dessen Rückkehr sie immer noch hoffte – aber alles blieb still und finster.
Am äußersten Ende der Ebene, auf der der helle Glanz der Sterne die phantastische Form einiger Gesträuche erkennen ließ, erhob sich der Wald wie ein schwarzer Gürtel; Nebel umkränzten seine Wipfel und begruben ihn in dichte Finsternis. Das ferne Licht blitzte noch immer wie ein Leuchtfeuer mitten aus dem Laubvorhang heraus. Plötzlich kam es den Augen des jungen Mädchens vor, als ob die Flamme höher emporschlage und einen lebhafteren Schein verbreite; gleichsam, um eine gute Aufnahme dem zu gewähren, der keine Zufluchtsstätte mehr hatte.
18. Der Aufbruch in der Nacht
Als Don Estévan und Cuchillo sich von dem Pavillon, den Doña Rosarita bewohnte, entfernt hatten und sie allein mit Tiburcio ließen, blieb der erstere schweigsam, ohne – wie es schien – die Gegenwart seines Gefährten zu bemerken, der ihn jedoch nicht verlassen hatte. Sie befanden sich wieder in der Allee von Granatbäumen, und der Spanier hatte es noch nicht für angemessen gehalten, ihm auch nur einen Vorwurf zu machen, obgleich es nicht in seiner ungestümen Natur lag, sich lange zu mäßigen; aber er war in tiefes Nachdenken versunken.
Besser mit den Geheimnissen des weiblichen Herzens bekannt als Tiburcio, hatte er am Schluß des verliebten Zwiegesprächs, das er gehört hatte, erraten, daß ein zärtliches Gefühl für diesen jungen Mann im Herzen Doña Rosaritas keimte, wenn sie sich auch dessen noch nicht bewußt war. Der veränderte Ton in der Stimme des Mädchens, seine Gebärden – alles hatte seinen Augen, die hellsehender waren als die von Tiburcio, da die Leidenschaft sie nicht blind machte und die Geheimnisse des weiblichen Herzens für ihn kein verschlossener Brief waren, die Beweise für eine Liebe verraten, die von sich selbst noch nichts wußte.
Er hatte bis jetzt die Tiburcio gemachte Entdeckung hinsichtlich des Val d‘Or als eine Sache von untergeordneter Wichtigkeit mit Verachtung behandelt; aber der von Doña Rosarita geliebte Tiburcio war für seinen Ehrgeiz ein unüberwindliches Hindernis. Die Heirat des Senators; die halbe Million, die dieser von der Mitgift seiner Frau für das Gelingen seiner Pläne opfern sollte; die Vorteile, die ihm Tragaduros‘ Einfluß im Senat von Arizpe – der durch seine Freigebigkeit