Gesammelte Werke. Robert Musil

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Gesammelte Werke - Robert Musil

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Ich bin jetzt ganz wach, aber wohin ich mich wende, gleitet der Blick um Fünfecke, Siebenecke und steile Prismen: Wer bin ich? Die Amphore am Dach mit eisengegossener Flamme, tagsüber eine lächerliche Ananas, verächtliches Geschöpf schlechten Geschmacks, stärkt in dieser Einsamkeit mein Herz wie eine frische Menschenspur.

      Endlich kommen zwei Beine durch die Nacht. Der Schritt zweier Frauenbeine und das Ohr. Nicht schaun will ich. Mein Ohr steht auf der Straße wie ein Eingang. Niemals war ich mit einer Frau so vereint wie mit dieser unbekannten, deren Schritte immer tiefer in meinem Ohr verschwinden.

      Dann zwei Frauen. Die eine filzig schleichend, die andre stapfend mit der Rücksichtslosigkeit des Alters. Schwarz. Seltsame Formen haben die Kleider alter Frauen. Sie streben zur Kirche. Längst ist die Seele in Betrieb genommen, und ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben.

      Der Erwachte

[20. Dezember 1924]

      Rasch, listig schob ich den Vorhang zur Seite: – Die sanfte Nacht! Ein mildes Dunkel, liegt die Schlafende im Fensterausschnitt des harten Zimmerdunkels wie ein Wasserspiegel im viereckigen Bassin.

      Ich sehe sie wohl gar nicht, aber es ist wie im Sommer, wenn das Wasser so warm ist wie die Luft, und die Hand aus dem Boot hängt, und du mündest aus der Schulter, durch den Arm, mit dem sanft gewundenen Fluß, bis in die runden Meere.

      Es wird sechs Uhr morgens am 1. November.

      Ich bin aus dem Schlaf geschossen wie ein abgeschnellter Pfeil. Gott hat mich geweckt. Ich hatte keinen anderen Grund aufzuwachen. Ich bin losgerissen worden wie ein Blatt aus einem Buch. Von einer Hand. Da bin ich auf den Erdboden geflattert, hieher, vors Fenster. Die Mondsichel liegt zart wie eine goldene Augenbraue auf dem blauen Blatt der Nacht.

      Da bemerkte ich, daß es am anderen Fenster, auf der Morgenseite grünlich wird. Papageienfedrig. Schon laufen auch die faden rötlichen Streifen des Sonnenaufgangs herauf. Aber noch ist alles grün, blau und ruhig. Ich springe zum ersten Fenster zurück: Liegt die Mondsichel noch da? Sie liegt da, als ob es tiefste Stunde des nächtlichen Geheimnisses wäre. So überzeugt von der Wirklichkeit ihrer Magie, als ob sie Theater spielte. (Nichts Komischeres gibt es, als wenn man aus vormittägigen Straßen in den Abersinn einer Theaterprobe tritt.) Links pulst schon die Straße, rechts probt die Mondsichel.

      Ich entdecke seltsame Brüder, die Schornsteine. In Gruppen zu dritt, zu fünf, zu sieben oder allein stehen sie auf den Dächern; wie Bäume in der Ebene. Der Raum windet sich wie ein Fluß zwischen ihnen in die Tiefe. Ein Uhu schleift zwischen ihnen nach Hause; aber wahrscheinlich war’s eine Krähe oder gar nur eine Taube. Die Häuser stehen kreuz und quer; seltsame Umrisse, abstürzende Wände; nicht mehr nach Straßen geordnet. Die Stange am Dach mit den sechsunddreißig Porzellanköpfen und den zwölf Verspannungsdrähten steht vor dem Morgenhimmel als ein völlig unerklärliches geheimnisvolles oberstes Gebilde. Ich bin jetzt ganz wach, aber wohin ich mich wende, gleitet der Blick um Fünfecke, Siebenecke und steile Prismen: Was bin ich? In welcher Welt lebe ich, o Gott? Der ich am gütigen Tag gleichgültig vertraute Dinge zu sehen meine? Die Amphore am Dach, tagsüber eine lächerliche Ananas, verächtliches Geschöpf schlechten Geschmacks, stärkt in dieser Einsamkeit mein Herz wie eine frische Menschenspur.

      Endlich kommen zwei Beine durch die Nacht. Der Schritt zweier Frauenbeine und das Ohr; nicht schauen will ich; nur mein Ohr steht auf der Straße wie ein Eingang. Und niemals war ich mit einer Frau so vereint wie mit dieser unbekannten, als ihre Schritte immer tiefer in meinem Ohr verschwanden.

      Dann zwei Frauen. Die eine filzig schleichend, die andere stapfend mit der Rücksichtslosigkeit des Alters. Schwarz. Seltsame Formen haben Kleider alter Frauen. Sie streben zur Kirche. Und nun weiß ich: Längst ist da und dort um diese Stunde die Seele schon in geordneten Betrieb genommen, die mich als Spuk genarrt hat. Frühstück, Briefträger, Morgenblatt! Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben!

      Sarkophagdeckel

[10. August 1926]

      Irgendwo hinten am Pincio ruhen zwei Sarkophagdeckel aus unedlem Stein, zwischen die Büsche gelegt, im Freien. Lang hingestreckt liegt auf ihnen das Ehepaar, das sich einst zum letzten Andenken hat abbilden lassen. Man sieht viele solcher Sarkophagdeckel in Rom, aber in keinem Museum und in keiner Kirche machen sie solchen Eindruck wie hier unter den Bäumen, wo die Figuren wie auf einer Landpartie ruhen und eben aus einem kleinen Schlaf erwacht zu sein scheinen, der zweitausend Jahre gewährt hat. Sie haben sich auf den Ellbogen gestützt und sehen einander an. Es fehlt nur der Korb mit Käse, Früchten und Wein zwischen ihnen. Die Frau trägt eine Frisur mit kleinen Locken, – gleich wird sie sie ordnen, nach der letzten Mode vor dem Einschlafen. Und sie lächeln einander an, lang, sehr lang. Du siehst weg; noch immer lächeln sie, ohne Ende. Dieser treue, brave, bürgerliche verliebte Blick hat die Jahrhunderte überstanden, er ist im alten Rom ausgesandt worden und kreuzt Dein Auge. Wundre Dich nicht darüber, daß sie nicht wegsehn oder die Augen senken; sie sind schamlos, weil sie ihre kleine persönliche Angelegenheit für ewig halten. Und wirklich, wenn Du noch länger hinsiehst, glaubst Du ein Ölflämmchen in den Steinen brennen zu sehn, so wie es vor zwei Jahrtausenden angezündet worden ist; viel wunderlicher ist dies als die Sonne über Deinem Haupt.

      Triëdere!

[15. Oktober 1926]

      Eines Nachmittags langweilte er sich sehr. Da erinnerte er sich, daß er noch aus der Kriegszeit ein Triëder besitze, fand es in einer tiefen Lade eines hohen Sekretärs und stellte es auf sein Auge ein. Er benützte dazu einen Anschlag, den er am Tor des gegenüberliegenden Hauses bemerkt hatte, und las zu seinem Staunen, daß ein staatliches Institut, welches in diesem Gebäude untergebracht war, von 9 bis 16 Uhr Amtsstunden habe. Denn es war 15 Uhr, und weit und breit kein Beamter mehr zu sehen; er erinnerte sich auch nicht, zu dieser Stunde jemals einen bemerkt zu haben. Endlich entdeckte er hinter einem entlegenen Fenster zwei dicht nebeneinander stehende Herren, welche mit den Fingern gegen die Scheiben trommelten und auf die Straße hinabsahen. Er erinnerte sich seiner eigenen unvergeßlichen Bureauzeiten. Das Triëdern ist Festangestellten, Beamten und ihresgleichen, Männern mit einer heiligen Anzahl von Bureaustunden, warm zu empfehlen.

      Das Haus, in welchem das stadtbekannte Amt untergebracht war, an dem diese ersten Versuche angestellt wurden, ist ein altes Palais mit Fruchtgewinden am Kapitäl der Steinpfeiler, und schöner Gliederung in der Horizontalen wie Vertikalen. Während der Beobachter noch die Beamten suchte, war ihm schon aufgefallen, wie deutlich sich diese Architektur ins Fernglas hineinstellte, und als sein Auge nun einiges an Pfeilerwerk, Fenstern und Gesimsen in einem Blick erfaßte, erschrak er beinahe vor der steinernen, perspektivischen Korrektheit, mit der es sich ihm darstellte. Er wurde plötzlich gewahr, daß er bisher diese zu einem Punkt im Hintergrund zusammenlaufenden Wagerechten, diese, je weiter seitlich, desto trapezförmiger zusammengezogenen Fenster, ja, diesen ganzen Absturz vernünftiger Begrenzungslinien bekannter Gegenstände in einen irgendwo seitlich und hinten gelegenen Trichter der Verkürzung für einen Alb der Renaissance gehalten hatte, eigentlich für eine grauenvolle Malersage vom Verschwinden der Linien, die gerüchtweise übertrieben worden war, wenn auch etwas Richtiges daran sein mochte. Nun aber sah er sie lebensgroß und weit schlimmer, als alles Gerücht vor seinen eigenen Augen.

      Wer es nicht glaubt, daß die Welt so aussieht, der triëdere die Straßenbahn. Vor dem Palais machte sie einen S-förmigen Doppelbogen. Ungezählte Male hatte unser Freund sie vom zweiten Stockwerk aus daherkommen, eben diesen S-förmigen Doppelbogen machen und wieder davonfahren gesehen, sie, die Straßenbahn, in jedem Augenblick dieser Entwicklung der gleiche längliche rote Wagen. Aber wenn du sie mit dem Triëder ansiehst, so bemerkst du: eine unerklärliche Gewalt drückt plötzlich diesen Kasten zusammen wie eine Pappschachtel, seine Wände stoßen immer schräger aneinander, gleich wird er platt sein, da läßt die Kraft nach, er fängt hinten an breit zu werden, durch alle seine Flächen läuft wieder eine Bewegung, und während du den angehaltenen Atem aus der Brust läßt, ist die alte vertraute rote Schachtel wieder in Ordnung. Das

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