Gesammelte Werke. Robert Musil

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Gesammelte Werke - Robert Musil

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sie sich im gemeinsamen Ausdruck einer Überzeugung finden, die sich ungefähr in die Worte fassen läßt: es gibt heute ja doch keine große Leistung und kein Genie! – Sie meinen damit durchaus nicht das Fach, das sie selbst vertreten, und es ist auch nicht eine besondere Form des bekannten Heimwehs nach der besseren alten Zeit, was sie bewegt. Denn es zeigt sich, daß die Chirurgen keineswegs die Zeit Billroths für chirurgisch größer als die ihre halten, daß die Pianisten durchaus überzeugt sind, das Klavierspiel habe seit Liszt Fortschritte gemacht, ja sogar, daß die Theologen die Meinung verbergen, es sei immerhin diese oder jene kirchliche Frage heute genauer bekannt als in Christi Tagen. Nur sobald die Theologen auf die Musik, die Dichtung oder die Naturwissenschaft, die Naturwissenschaftler auf die Musik, die Dichtung und die Religion, die Dichter auf die Naturwissenschaft usw. zu sprechen kommen, zeigt sich jeder überzeugt, daß die anderen nicht ganz das Richtige leisten und von dem Beitrag, den sie der Allgemeinheit schulden, bei allem Talent das Letzte, eben was das Genie wäre, schuldig bleiben.

      Dieser Kulturpessimismus auf Kosten der anderen ist heute eine weitverbreitete Erscheinung. Er steht in sonderbarem Widerspruch zu der Kraft und Geschicklichkeit, die allenthalben im einzelnen entwickelt werden. Man hat geradezu von unserer Zeit den Eindruck, daß ein Riese, der ungeheuer viel ißt, trinkt und leistet, davon nichts wissen will und sich lustlos schwach erklärt wie ein junges Mädchen, das die eigene Blutarmut ermüdet. Es gibt auch zur Erklärung dieser Erscheinung sehr viele Hypothesen, davon angefangen, daß man sie als die letzte Stufe einer seelenlos werdenden Menschheit ansieht, bis dorthin, wo man in ihr die erste Stufe von irgendetwas Neuem erblickt. Es wird gut sein, diese Hypothesen nicht ohne Not um eine neue zu vermehren.

      Denn man hat schon einmal eine sehr üble Erfahrung gemacht: das war die Geschichte mit dem Kircherschen Huhn. Wenn man dieses Huhn mit beiden Händen eine Weile niederdrückte – doch davon später! Man kann nämlich ebensogut sagen: es gibt nur noch Genies. Man muß sich bloß die Mühe nehmen und durch längere Weile unsere Buchbesprechungen und Aufsätze sammeln, mit der Absicht und nach den Methoden, um aus ihnen ein Bild der geistigen Bewegung in der Zeit zu gewinnen. Man wird nach einigen Jahren mächtig darüber staunen, wieviele erschütternde Seelenverkünder, Meister der Darstellung, größte, beste, tiefste Dichter, ganz große Dichter, und endlich einmal wieder ein großer Dichter im Laufe solcher Zeit, der Nation geschenkt werden, wie oft die beste Tiergeschichte, der beste Roman der letzten zehn Jahre und das schönste Buch geschrieben wird. Wenn man oft Gelegenheit hat, solche Sammlungen zu durchblättern, staunt man jedesmal von neuem über die Heftigkeit augenblicklicher Wirkungen, von denen in den meisten Fällen wenige Jahre später nichts mehr zu sehen ist.

      Man kann dabei eine zweite Beobachtung machen. Noch mehr als einzelne Urteile, sind ganze Kreise hermetisch gegeneinander abgedichtet. Sie werden gebildet von bestimmten Typen von Verlagen, zu denen bestimmte Typen von Autoren, Kritikern, Lesern, Genies, Urteilen und Erfolgen gehören. Denn das Bezeichnende ist, daß man in jeder dieser Gruppen ein Genie werden kann, wenn man eine bestimmte Höhe der Auflage und damit des Verlegerinteresses erreicht, ohne daß die anderen Gruppen davon etwas merken. Es mag sein, daß in ganz großen Fällen ein Teil des Publikums von der einen Fahne zur anderen desertiert und daß sich um die meistgelesenen Schriftsteller ein eigenes Publikum aus allen Lagern bildet; stellt man aber eine Rangliste der Erfolgreichen nach den Auflagenzahlen zusammen, so merkt man sogleich aus ihrer Zusammensetzung, wie wenig die paar Lichtgestalten, die sich darin befinden, imstande sind, bildend auf den Geschmack der Allgemeinheit zu wirken und ihn davon abzuhalten, daß er sich, mit der gleichen Begeisterung wie ihnen, auch einer obskuren Mittelmäßigkeit zuwende; diese Einzelnen treten wohl über die Ufer, welche vorgezeichnet sind, aber wenn ihre Wirkung abfließt, fängt jede Rinne des vorhandenen Kanälesystems das ihre davon auf. Man kann auch sagen, sie machen den Geschmack soweit gesund, daß er sich seinen Krankheiten weiter hingeben kann.

      Wenn man sie nicht bloß auf die schöne Literatur beschränkt, so wird diese Betrachtung überwältigend. Es ist gar nicht zu sagen, wieviele Rom es gibt, in deren jedem ein Papst sitzt. Nichts bedeutet der Kreis um George, der Ring um Blüher, die Schule um Klages gegen die Unzahl der Sekten, welche die Befreiung des Geistes durch den Einfluß des Kirschenessens, vom Theater der Gartensiedlung, von der rhythmischen Gymnastik, von der Wohnungseinrichtung, von der Eubiotik, vom Lesen der Bergpredigt oder einer von tausend anderen Einzelheiten erwarten. Und in der Mitte jeder dieser Sekten sitzt der große Soundso, ein Mann, dessen Namen Uneingeweihte noch nie gehört haben, der aber in seinem Kreise die Verehrung eines Welterlösers genießt. Ganz Deutschland ist voll von solchen geistigen Landsmannschaften; aus dem großen Deutschland, wo von zehn bedeutenden Schriftstellern neun sich nur durch den Hausierhandel mit Feuilletons ernähren können, strömen ungezählten Halbnarren Mittel zur Entfaltung ihrer Propaganda, zum Druck von Büchern und zur Gründung von Zeitschriften zu. Es sind vor dem Kriege in Deutschland (damals wußte man wenigstens noch bei allem, was man tat, daß es für die Statistik geschah) jährlich über tausend neue Zeitschriften und weit über dreißigtausend neue Bücher erschienen, und wir haben uns natürlich eingebildet, daß es ein weithin leuchtendes Zeichen unseres geistigen Hochstandes sei. Man kann leider mit nicht geringerer Sicherheit vermuten, daß dieses Übermaß ein unbeachtetes Zeichen eines sich ausbreitenden Beziehungswahnes ist, dessen Grüppchen das ganze Leben an einer fixen Idee befestigen möchten, so daß es heute bei uns ein echter Paranoiker wirklich schwer hat, sich des Wettbewerbs der Amateure zu erwehren.

      Es ist nicht unmöglich, daß diese drei Tatsachen: es gibt keine Genies, es gibt nur noch Genies und der Mensch mag nicht lesen – in einer tiefen Weise Zusammenhängen; jetzt müßte eigentlich nur noch gesagt werden, warum und wie. Aber da ist eben diese Geschichte mit dem Kircherschen Huhn. Wenn man dieses Huhn mit beiden Händen eine Weile niederdrückte und mit Kreide vorher einen Kreis darum gezogen hatte, so zeigte sich, daß das Huhn nicht aufstehen und den Kreis überschreiten konnte. Man hat sehr viele Hypothesen zur Erklärung dieser äußerst merkwürdigen Erscheinung aufgestellt. Aber irgendwann kam man darauf, daß das Huhn zuweilen auch aufsteht und weggeht. Ich möchte also lieber nichts Abschließendes sagen.

      Der Riese Agoag

[17. März 1927]

      Wenn der Held dieser Erzählung das Hemd aufstreifte, kamen zwei Arme zum Vorschein, die so dünn waren wie die Schatten unter den Augen einer Jungfrau; wenn er einer Frau Eindruck machen wollte, konnte es geschehen, daß ihr etwas erstaunter Blick auf seinem Scheitel ruhte; und als ihm einmal eine stattliche Schöne überraschend ihre Gunst schenkte, kam sie auf den Einfall, ihn «mein Eichhörnchen» zu nennen. Darum las er in den Zeitungen nur den Sportteil, im Sportteil am eifrigsten die Boxnachrichten und von den Boxnachrichten am liebsten die über Schwergewichte. Sein Leben war dementsprechend unglücklich.

      Aber er ließ nicht ab, den Aufstieg zur Kraft zu suchen. Weil er nicht genug Geld hatte, um in einen Verein einzutreten, und weil Sport ohnedies nach neuer Auffassung nicht mehr das verächtliche Talent eines Leibes, sondern ein Triumph der Moral und des Geistes ist, suchte er diesen Aufstieg allein. Es gab keinen freien Nachmittag, den er nicht dazu benutzte, um auf den Zehenspitzen spazierenzugehen. Wenn er sich unbeobachtet wußte, griff er mit der rechten Hand hinter den Schultern vorbei nach den Dingen, die links von ihm lagen, oder umgekehrt. Das An-und Auskleiden beschäftigte seinen Geist als die Aufgabe, es auf die entschieden anstrengendste Weise zu tun. Und weil der menschliche Körper zu jedem Muskel einen Gegenmuskel hat, so daß der eine sich streckt, wenn der andere sich beugt, oder sich beugt, wenn jener sich streckt, gelang es ihm, sich bei jeder Bewegung die unsagbarsten Schwierigkeiten zu schaffen. Man kann behaupten, daß er an guten Tagen aus zwei völlig fremden Menschen bestand, die einander unaufhörlich bekämpften. Wenn er aber nach solchem ausgenutzten Tag ans Einschlafen ging, so spreizte er alle Muskeln, deren er überhaupt habhaft werden konnte, noch einmal gleichzeitig auseinander, und dann lag er in seinen eigenen Muskeln wie ein Stückchen fremdes Fleisch in den Fängen eines Raubvogels, bis ihn Müdigkeit überkam, der Griff sich löste und ihn senkrecht in den Schlaf fallen ließ. Es konnte nicht ausbleiben, daß er bei dieser Lebensweise unüberwindlich stark wurde. Aber gerade, als er, ehe dies geschah, einmal vierzehn Tage lang seine Übungen ausgesetzt hatte, bekam er Streit auf der Straße und wurde von einem dicken Schwamm von Menschen

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