Gesammelte Werke. Robert Musil

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Gesammelte Werke - Robert Musil

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ganz wie früher, und es erschien lange fraglich, ob er ein Leben ohne alle Hoffnung werde ertragen können. Da rettete ihn ein großer Omnibus. Er wurde zufällig Zeuge, wie ein riesiger Omnibus einen athletisch gebauten jungen Mann überfuhr, und dieser tragische Unfall wurde für ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Lebens. Der Athlet wurde sozusagen vom Dasein abgeschält wie ein Span oder eine Apfelschale, wogegen der Omnibus bloß peinlich berührt zur Seite wich, stehenblieb und aus vielen Augen zurückglotzte. Es war ein trauriger Anblick, aber unser Mann nahm rasch seine Chance wahr und kletterte in den Sieger hinein.

      Das war nun so: Für fünfzehn Pfennige durfte er, wann immer er wollte, in den Leib eines Riesen kriechen, vor dem alle Sportsleute zur Seite sprangen. Der Riese hieß Agoag. Das bedeutet wohl Allgemein geschätzte Omnibus-Athleten-Gesellschaft; denn wenn man Märchen erleben will, muß man heute sehr klug sein. Unser Held saß nun auf dem Verdeck und war so groß, daß er alles Gefühl für die Zwerge verlor, die auf der Straße wimmelten. Unvorstellbar, was sie miteinander zu sprechen hatten. Er freute sich, wenn sie erschrocken hopsten. Er schoß, wenn sie die Fahrbahn überquerten, auf sie los wie ein großer Köter auf Spatzen. Er sah auf die Dächer der eleganten Privatautos, die ihm sonst geradezu einschüchternd vornehm erschienen waren, – nun, er sah im Bewußtsein der eigenen Zerstörungskraft etwa auf sie wie ein Mensch, mit einem Messer in der Hand, auf die lieben Hühner in einem Geflügelhof. Man braucht durchaus nicht viel Phantasie dazu, bloß logisches Denken, um ihm zu folgen. Denn wenn es richtig ist, was man sagt, daß Kleider Leute machen, weshalb sollte das nicht auch ein Omnibus können? Man hat seine riesige Kraft an oder um, und wenn man sich einen ritterlichen Helden mit einem Panzer denken kann, weshalb nicht auch mit einem Omnibus? Und die großen Kraftnaturen der Weltgeschichte? War ihr verwöhnter Leib das furchtbar Große an ihnen oder war es der Machtapparat, mit dem sie ihn zu umgeben wußten? Und was ist es, dachte unser Mann in seinem engeren Gedankenkreis, mit allen den Edelleuten des Sports, welche die Könige des Boxens, Laufens und Schwimmens als Höflinge umgeben, vom Manager und Trainer bis zu dem Mann, der die blutigen Eimer wegträgt oder den Bademantel um die Schultern legt: verdanken diese zeitgenössischen Nachfolger der alten Truchsessen und Mundschenken ihre persönliche Würde ihrer eigenen oder den Strahlen einer fremden Kraft?

      Man sieht, der Held dieser Geschichte hatte sich vergeistigt. Er benutzte nun jede freie Stunde zum Omnibusfahren. Sein Traum war ein umfassendes Streckenabonnement. Und wenn er es erreicht hat und nicht gestorben, erdrückt, überfahren worden, abgestürzt oder in einem Irrenhaus ist, fährt er damit noch heute. Allerdings, einmal ging er sogar so weit, eine Freundin auf den Omnibus mitzunehmen, um sie auf die Probe zu stellen, ob sie geistige Männerschönheit zu würdigen wisse. Und da war in dem Riesenleib ein winziger Parasit mit dicken Schnurrbartspitzen, der lächelte die Freundin frech an, und sie lächelte zehn Minuten lang zurück; ja, er flüsterte ihr im Vorbeistreifen sogar etwas zu. Unser Held kochte vor Wut; er hätte sich gerne auf den Nebenbuhler gestürzt, aber so klein dieser neben dem Riesen Agoag aussehen mußte, in dessen Leib war er gut doppelt so breit als unser Held. Da stieg dieser aus und überhäufte seine Freundin mit Vorwürfen. Aber, siehe, sie antwortete: Ich mache mir gar nichts aus starken Männern, ich liebe nur Omnibusse! – Damals ahnte dem Entdecker des Omnibus, daß irgend etwas an seiner Entdeckung nicht stimme; aber wie das schon so ist, solche Ahnungen gehen vorüber.

      Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten

[27. März 1927]1729

      Als der Marquis von Epatant den Raubtieren vorgeworfen wurde – eine Geschichte, die leider in keiner einzigen Chronik des achtzehnten Jahrhunderts erwähnt wird –, sah er sich plötzlich in eine so peinliche Lage versetzt, wie sie ihm noch nie widerlaufen war. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen und ging lächelnd, mit einem Blick, der wie aus zwei geschliffenen Edelsteinen kam, aber nichts mehr sah, dem Nichts entgegen. Doch es löste ihn dieses Nichts nicht ins Ewige auf, zog sich vielmehr sehr gegenwärtig zusammen; mit einem Wort, nicht das Nichts, sondern nichts ereignete sich, und als er sich seiner Augen wieder zum Sehen zu bedienen begann, gewahrte er ein großes Raubtier, das ihn unschlüssig betrachtete. Dies wäre dem Marquis weiter nicht peinlich gewesen, – er hatte Angst, aber er wußte, wie man sie zu tragen habe, – wenn er nicht im selben Augenblick innegeworden wäre, daß es ein weibliches Raubtier war. Strindberg gab es damals noch nicht, man lebte und starb in den Anschauungen des achtzehnten Jahrhunderts, und Epatants natürliche Regung war es, den Hut zu lüften und eine galante Verbeugung zu machen. Dabei sah er aber, daß die Handgelenke der ihn betrachtenden Dame fast so breit waren wie sein Oberschenkel, und die Zähne, welche in dem lüstern und neugierig geöffneten Mund sichtbar geworden waren, gaben ihm ein Bild des Massakers, das ihm bevorstand. Diese Person vor ihm war schön, furchteinflößend stark und in Blick wie Gestalt durchaus weiblich. Das war zuviel für Epatant. Er fühlte sich durch die in allen Gliedern spielende Zärtlichkeit der Raubkatze unwillkürlich an die entzückende stumme Beredsamkeit der Liebe erinnert. Er mußte sich nicht nur fürchten, sondern zugleich auch den beschämenden Kampf dieser Furcht mit dem Bedürfnis des Mannes ertragen, einem weiblichen Wesen unter allen Umständen zu imponieren, die Frau in ihm einzuschüchtern und zu besiegen. Statt dessen ging es ihm umgekehrt. Die weibliche Bestie schüchterte ihn als Bestie ein, und das wundervoll Weibliche, das jede ihrer Bewegungen ausatmete, mengte in die Vergeblichkeit jedes Widerstandes die freudige Ohnmacht der Hingabe. Er, Marquis d’Epatant, war in den Zustand und die Rolle eines Weibchens gebracht worden, und dies in der letzten Minute seines Lebens! Er sah keine Möglichkeit, diesem boshaften ihm angetanen Schimpf zu entrinnen, fiel in Ohnmacht und wußte zu seinem Glück länger nicht mehr, was mit ihm geschah.

2197 vor unserer Zeitrechnung.

      Ich weiß nicht, ob die Jahreszahl stimmt, aber wenn es den Staat der Amazonen wirklich gegeben hat, so müssen äußerst ernst zu nehmende Damen darin gewohnt haben. Denn hätten sie etwa nur einen etwas gewalttätigen Frauenrechtsverein dargestellt, so würden sie es in der Geschichte höchstens zur Reputation der Abderiten oder Sancho Pansas gebracht haben und wären bis zum heutigen Tag ein Beispiel unweiblicher Komik geblieben. Statt dessen leben sie in heldenhaftem Andenken, und man darf daraus schließen, daß sie ihrerzeit in einer überaus beachtenswerten Weise gebrannt, gemordet und geraubt haben müssen. Mehr als ein indogermanischer Mann muß vor ihnen Angst gehabt haben, ehe sie es zu ihrem Ruf brachten. Mehr als ein Held wird vor ihnen davongelaufen sein. Mit einem Wort, sie müssen dereinst dem prähistorischen Mannesstolz nicht wenig zugesetzt haben, bis er schließlich zur Entschuldigung von soviel Feigheit sagenhafte Geschöpfe aus ihnen machte, einem Gesetz folgend, wonach auch ein Sommerfrischler, der vor einer Kuh flüchtet, immer behaupten wird, daß es zumindest ein Ochse gewesen sei.

      Wie aber, wenn es diesen Amazonenstaat niemals gegeben hat? Und das ist doch das Wahrscheinlichste, weil man sich ja kaum denken kann, daß es darin Divisions-und Regimentsstörche gab, welche den bewaffneten Jungfrauen die Rekruten brachten. Wovor haben sich dann die antiken Helden gefürchtet? War das Ganze nur ein wunderlich Gewalt antuender Traum? Es fällt einem dabei unwillkürlich ein, daß sie auch sonst Göttinnen verehrten, von denen sie im Rausch der Anbetung zerrissen wurden, und die Sphinx besuchten die kundigen Thebaner wie der Fliegerich die Spinne. Man muß sich schandenhalber wohl ein wenig darüber wundern, was für Träume diese Urväter unserer Gymnasialbildung kannten! Vorbildliche Sportsleute, die sich im allgemeinen nicht viel aus Frauen machten, träumten sie von Frauen, vor denen sie sich fürchten konnten. Sollte am Ende der Baron Sacher-Masoch eine so lange Ahnenreihe gehabt haben? Es ist nicht denkbar. Denn wir können uns wohl vorstellen, daß die Menschheit moralisch aus tiefen Abgründen kommt, weil sie bekanntlich mit jedem Tag höher steigt und dazu Platz braucht, aber daß an den Grundlagen des humanistischen Unterrichts etwas derart in Unordnung sein sollte, vermögen wir nicht zu glauben. Man hat nicht selten gefunden, daß etwas, das heute als Wahnsinn erscheint, ein Atavismus ist, ein Rückfall auf eine Vorstufe, die zu ihrer gesunden Zeit etwas ganz anderes bedeutete.

      Dunkel sind die Anfänge der Zivilisation.

1927

      Was haben zwei Jahrhunderte des Humanismus aus dieser Geschichte gemacht?

      Ein Mann besiegt in offener Feldschlacht das Amazonenheer, und die Amazone verliebt

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