Gesammelte Werke. Robert Musil

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Gesammelte Werke - Robert Musil

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sie lächerlich findet, sondern auch die andere, daß man sich schwer vorstellen kann, ein Mann, der nicht Zug um Zug ebenso lächerlich gekleidet sei wie man selbst, sei geistig ohne Vorbehalt ernst zu nehmen. Ich wüßte nicht, was bei unserer Bewunderung für die Antike einen angehenden Philosophen vor dem Selbstmord schützen könnte, wenn nicht der Umstand, daß Platon und Aristoteles keine Hosen trugen; die Hosen haben, mehr als man denkt, zum geistigen Aufbau Europas beigetragen, das ohne sie seinen klassisch-humanistischen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Antike wahrscheinlich niemals losgeworden wäre. So ist es unser tiefstes Zeitgefühl, daß wir mit niemand tauschen möchten, der in unmodernen Kleidern lebt. Auch in der Kunst haben wir wohl deshalb mit jedem neuen Jahr das Gefühl des Fortschritts, wenn es vielleicht auch nur Zufall ist, daß die Bilderausstellungen zur gleichen Zeit kommen wie die neuen Moden, im Frühjahr und Herbst. Aber dieses Gefühl ist nicht angenehm. Es ist wie im Traum, wo man auf einem Pferd sitzt und nicht herunter kann, weil es keinen Augenblick stillsteht. Man würde sich gern über den Fortschritt freuen, wenn er bloß ein Ende hätte. Man würde gern einen Augenblick anhalten und vom hohen Roß zur Vergangenheit sprechen: Sieh, wo ich bin! Aber schon geht die unheimliche Entwicklung weiter, und wenn man das einigemal mitgemacht hat, so beginnt man sich jämmerlich zu fühlen, mit vier fremden Beinen unter dem Bauch, die unentwegt fortschreiten.

      Und so sind zum Schluß doch die Mode und die Kunst und die Liebe und die Begeisterung und die schönen Einfälle alle miteinander verwandt. Schrecklich, wenn man sich an alles erinnert, das man wichtig genommen hat! Die meisten Menschen, wenn man ihnen im vorgerückten Alter – phono-und kinematographisch festgehalten – noch einmal die heftigen Gebärden und großen Worte vorführen könnte, die sie gebraucht haben, würden sich wie irrsinnig vorkommen. Es liegt im Wesen des Irdischen eine Übertreibung, ein Superplus und Überschwang. Selbst zu einer Ohrfeige braucht man mehr als man verantworten kann. Aber schließlich verbrennt der Enthusiasmus, und man hat etwas in der Hand; Kinder bleiben davon übrig, Lebensstellungen, Prozesse, getane Reisen, Erfolge, und vor allem entsteht der in seinem soundsovielten Jahr befriedigt auf sein Leben zurückblickende Mann daraus, eine Person, um deretwillen wir alles in der Welt gerechtfertigt finden würden. Nur von der Kunst geht nichts aus, was ohne Enthusiasmus bestehen bleiben könnte. Sie ist sozusagen nur Enthusiasmus ohne Knochen und Asche, reiner Enthusiasmus, der zu nichts verbrennt. Sie ist nicht unsere Vergangenheit, sondern unser Vergangenes. Begreiflicherweise blicken wir es nicht wenig beklommen an, denn man bekommt es nicht oft zu sehen und hat keine Ahnung, aus wieviel Dampf man besteht.

      Ich sage übrigens nicht, so muß es sein. Ich sage nur, so ist es meistens. Und selbst das wissen die meisten Menschen nicht.

      Der Mensch ohne Charakter

[10. Juli 1927]

      Ich habe mehrere Freunde, welche keinen Charakter besitzen; wer hätte sie nicht? Aber darunter ist einer, der seinen Charakter fast sein ganzes Leben lang vermißt hat, der ihn schmerzlich entbehrt und gesucht hat; und das ist schon etwas nicht ganz Alltägliches.

      Wir waren Nachbarskinder. Wenn er irgendeine der Kleinigkeiten angestellt hatte, die so schön sind, daß man sie nicht gern erzählt, pflegte seine Mutter zu seufzen, denn die Prügel, die sie ihm gab, strengten sie an, und dem sollte sie sich eigentlich nicht aussetzen. «Junge,» jammerte sie, «du hast nicht die Spur von Charakter; was mag aus dir noch werden!?» In den schwereren Fällen wurde der Herr Vater zu Rate gezogen. Dann hatten die Prügel eine gewisse Feierlichkeit und eine ernste Würde, ungefähr wie ein Schulfest. Vor Beginn mußte mein Freund dem Herrn Oberrechnungsrat eigenhändig den Rohrstab holen, der im Hauptberuf dem Ausklopfen der Kleider diente und von der Köchin verwahrt wurde, während er nach Schluß die Vaterhand zu küssen und mit Dank für die Zurechtweisung um Verzeihung für die Sorgen zu bitten hatte, die er seinen lieben Eltern verursachte. Mein Freund machte es umgekehrt. Er bettelte und heulte vor Beginn um Verzeihung und setzte das von einem Schlag zum andern fort; wenn es aber einmal vorbei war, brachte er kein Wort mehr hervor, war blaurot im Gesicht, schluckte Tränen und Speichel und suchte durch emsiges Reiben die Spuren seiner Empfindungen zu beseitigen. «Ich weiß nicht,» – pflegte dann sein Vater zu sagen – «was aus dem Jungen noch werden soll; der Bengel hat absolut keinen Charakter!»

      So war in unserer Jugend Charakter das, wofür man Prügel bekommt, obgleich man es nicht hat. Man wird nicht übersehen, daß darin eine gewisse Ungerechtigkeit steckt. Ein logisch gereifter Mensch wird freilich sagen, wenn man von uns Charakter verlangte, so sei dies der übergeordnete und zusammengefaßte Begriff gewesen des Gegenteils von schlechten Zeugnissen, geschwänzten Schulstunden, an Hundeschwänze gebundenen Blechtöpfen, Geschwätz und heimlichen Spielen während des Unterrichts, verstockten Ausreden, zerstreutem Gedächtnis und unschuldigen Vögeln, die ein versteckter Schütze mit der Schleuder geschossen hat. Aber das natürliche Gegenteil von alledem waren doch schon die Schrecknisse der Strafe, die Angst vor Entdeckung und die Qualen des Gewissens, welche die Seele mit jener Reue peinigen, die man empfinden könnte, wenn die Sache schief ginge. Das war komplett; für einen Charakter ließ es keinen Platz und keine Tätigkeit übrig, er war vollkommen überflüssig. Dennoch verlangte man ihn von uns.

      Es hätte uns vielleicht einen Anhaltspunkt bieten sollen, daß zu den Strafen auch im einzelnen erläuternde Worte gesprochen wurden wie: Hast du denn gar keinen Stolz, Bube?! – oder: Wie kann man bloß so niederträchtig lügen?! – Aber ich muß sagen, daß es mir selbst heute noch schwer fiele, stolz zu sein, wenn ich eine Ohrfeige bekäme. Oder Stolz zu zeigen, während ich auf den Rücken falle. Wut könnte ich mir vorstellen; aber die sollten wir ja gerade nicht haben! Und ebenso ist es mit dem Lügen; wie soll man denn lügen, wenn nicht niederträchtig? Etwa ungeschickt? Wenn ich darüber nachdenke, kommt es mir selbst heute noch vor, als ob man damals am liebsten von uns Buben gefordert hätte, wir sollten aufrichtig lügen. Das war aber eine Art doppelter Anrechnung: erstens, du sollst nicht lügen, zweitens, wenn du jedoch lügst, dann lüge wenigstens nicht verlogen. Es ist ja zuzugeben, daß erwachsene Verbrecher das können müssen, denn sonst würde man es ihnen in den Gerichtssälen nicht immer als besondere Bosheit anrechnen, wenn sie ihre Verbrechen kaltblütig, vorsichtig und mit Überlegung begehen, aber von Buben war das entschieden zuviel verlangt. Ich fürchte, ich habe bloß deshalb keine so auffallenden Charaktermängel gezeigt wie mein Freund, weil ich nicht so sorgfältig erzogen wurde.

      Am einleuchtendsten von allen elterlichen Ansprüchen, welche sich mit unserem Charakter befaßten, waren noch die, welche sein bedauerliches Fehlen mit der Warnung in Zusammenhang brachten, daß wir ihn einst als Männer vonnöten haben würden. «Und ein solcher Junge will ein Mann werden!?» hieß es ungefähr. Sah man davon ab, daß die Sache mit dem Wollen nicht ganz klar war, so bewies dies doch wenigstens, daß Charakter etwas sei, das wir erst später brauchen würden; wozu dann jetzt schon die überhasteten Vorbereitungen? Dies war ganz das, was wir meinten.

      Wenn mein Freund also damals keinen Charakter besaß, so vermißte er ihn doch nicht. Das kam erst später und begann zwischen unserem sechzehnten und siebzehnten Jahr. Da fingen wir an, ins Theater zu gehen und Romane zu lesen. Von dem Gehirn meines Freundes, das lebhafter als das meine die irreführenden Verlockungen der Kunst aufnahm, ergriffen der Intrigant der städtischen Theater, der zärtliche Vater, der heldenhafte Liebhaber, die teuflische Salonschlange und die bezaubernde Naive Besitz. Er redete nur noch in falschen Tönen, hatte aber plötzlich alles von Charakter in sich, was es auf der deutschen Bühne gibt. Wenn er etwas versprach, wußte man nie, ob man sein Ehrenwort als Held oder als Intrigant besaß; es geschah, daß er einen heimtückischen Vorschlag machte, aber später heldenhaft aufrichtig durchführte, oder daß er etwas naiv zusagte und bei der Ausführung ein Bösewicht wurde; er konnte polternd uns Freunde empfangen, um uns plötzlich mit dem eleganten Lächeln des Bonvivants Platz und Schokoladenbonbons anzubieten, oder umarmte uns väterlich und stahl dabei die Zigaretten aus unserer Tasche.

      Das war harmlos und offen, verglichen mit den Wirkungen des Romanelesens. In solchen Romanen finden sich die wundervollsten Verhaltungsweisen für unzählige Lebenslagen beschrieben. Der einzige Nachteil ist bloß der, daß die Lebenslagen, in welche man gerät, sich niemals ganz mit den Lebenslagen decken, in denen jene Worte:

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