Gesammelte Werke. Robert Musil

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Gesammelte Werke - Robert Musil

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auf die Nase fallen kann. In der Stadt ist die einzige Geschwindigkeit, die man eigentlich noch spürt, die des zu erreichenden Anschlusses, die Hast des Umsteigens und die Unsicherheit des rechtzeitigen Weiterkommens. Ohne den Segen der Neurasthenie würde man auch die schon verloren haben, denn schlimmstenfalls opfert der Eilige, statt daß er keucht und Dampf schwitzt, Mark Eins, fünfzig für ein Auto, das alles dies sofort für ihn besorgt. Und je höher man im Reich der Kräfte hinaufsteigt, desto ruhiger geht es zu. Eine Turbinenanlage von fünfzigtausend Pferdestärken surrt fast lautlos, und die ungeheuerlichsten Geschwindigkeiten der Technik sind nur noch ein stilles Schaukeln. Das Leben wird desto unpathetischer und sachlicher, je gigantischer es wird. Ein Boxkampf zwischen zwei Meistern enthält weit weniger Alarm als eine Straßenprügelei zwischen zwei Laien, und ein Gaskampf ist lange nicht so dramatisch wie eine Messerstecherei. Die großen neuen Intensitäten haben vollends für das Gefühl etwas Unfaßbares, wie Strahlen, für die noch kein Auge da ist. Es wird aber sehr lange dauern, ehe die Menschen statt Eilzug wirklich Ruhezug sagen und das Wort Hals über Kopf nur noch gebrauchen, wenn sie etwa den Abendfrieden beschreiben und ausdrücken wollen, daß sich weit und breit nichts rührt und die ungewohnte Ruhe von allen Seiten über sie hinstürzt wie ein Meer.

      Als Papa Tennis lernte

[April 1931]

      Als Papa Tennis lernte, reichte das Kleid Mamas bis zu den Fußknöcheln. Es bestand aus einem Glockenrock, einem Gürtel und einer Bluse, die einen hohen, engen Umlegekragen hatte als Zeichen einer Gesinnung, die bereits anfing, sich von den Fesseln zu befreien, die dem Weibe auferlegt sind. Denn auch Papa trug an seinem Tennishemd einen solchen Kragen, der ihn am Atmen hinderte. An den Füßen schleppten beide nicht selten hohe braune Lederschuhe mit zolldicken Gummisohlen, und ob Mama außerdem noch ein Korsett zu tragen hätte, das bis an die Achselhöhlen reichte, oder sich mit einem kürzeren begnügen dürfte, war damals eine umstrittene Frage. Damals war Tennis noch ein Abenteuer, von dem sich die verzärtelte heutige Generation keine Vorstellung mehr machen kann. O, rührende Frühzeit, als man noch nicht wußte, daß auf kontinentalen Tennisplätzen kein Gras gedeiht! Man behandelte es vergeblich mit der Sorgfalt eines Friseurs, der an einem an Haarausfall leidenden Kunden alle seine Mittel versucht. Aber man konnte auf solchen Grasplätzen bei Turnieren unerwartete Erfolge erzielen, wenn der Ball zufällig auf einen Maulwurfshügel fiel oder der Gegner über ein Grasbüschel.

      Leider hat man diese romantischen Tenniswiesen bald aufgegeben und den modernen Hartplatz geschaffen, wodurch ein ernster Zug in den Sport kam. Die Figuren verschwanden, die man anfangs hatte sehen können, wie sie, scharf visierend, mit turnerischer Geschicklichkeit das Racket einem Flugball entgegenstießen, und es bildeten sich überraschend schnell die Schläge aus, die heute noch gebraucht werden, mit ganz wenigen Ausnahmen, die erst später dazugekommen sind. Auch die Listen des Spiels waren bald beisammen und fertig; nur nannte man sie damals noch nicht Taktik und Strategie, wahrscheinlich, weil man vor Leutnants und geistigen Leistungen zu großen Respekt hatte. Das war aber viel zu bescheiden: Man wundert sich zuweilen über das Genie der Urmenschen, wenn man bedenkt, daß sie gleichsam aus dem Nichts heraus das Feuer, das Rad, den Keil, den Einbaum erfunden haben, und solche Urgenies der Tennisschläge sind wir gewesen, eure Eltern, liebe Kinder, wenn ich auch offen zugeben muß, daß man selbst nichts davon hat und es erst im Spiegel der Geschichte bemerkt. Der Zeitgeist schafft sich eben seine Werkzeuge. Was nach uns gekommen ist, war ebensowohl ein großes Wachsen des Durchschnittskönnens wie der Spitzenleistungen, aber wir sind es gewesen, welche die Gnade dieses Jahrhunderts empfangen haben, und daraus leite ich auch die Berechtigung ab, einiges von solchen Angelegenheiten zu erzählen.

      Um noch einen Augenblick beim Tennis zu bleiben: man konnte noch vor zehn oder weniger Jahren in diesem Sport gewisse Spuren der ursprünglichen Moral beobachten. Wenn man von einer anderen Sportstätte auf einen Tennisgrund kam, so war das, sofern man einen empfänglichen Blick für Kleidung hatte, nicht anders, als ob man von einem hellen, offenen Platz in einen hochstämmigen Wald träte. Hier reichten die Röcke noch bis zur halben Wade und die Taille bis zu den Handgelenken, als sich der Dreß anderswo längst schon auf die Größe eines Bogens Briefpapier, wenn nicht gar einer Eintrittskarte zusammengezogen hatte; ja, was die Herren angeht, so stecken sie bekanntlich heute noch in weißen Futteralen, und nur die Damen verlieren von den Armen und Beinen aus zusehends ihre Kleidung. Dieser konservative Grundzug des Tennis hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß es lange Zeit ein Sport der «Gesellschaft» gewesen ist, die es zum Vergnügen spielte und die Nacktheit nicht für einen neuen Geist hielt, sondern für ein Geheimnis des Garderobeschranks, das man nur selten tragen darf, weil es immer das gleiche bleibt. In ähnlicher Weise ist ja auch ein anderer Sport der Gesellschaft konservativ geblieben, das Fechten, diese schwarzseidene Kavalierskunst, deren Anblick, wenn sie öffentlich auftritt, mehr vom achtzehnten Jahrhundert an sich hat als von den Formen der Gegenwart, und an sportlicher Geltung dann auch weit zurücksteht. Das Fechten war ein ritterlicher Sport und also eigentlich überhaupt keiner, oder ist nur noch ein halb lebendiger, der trotz seiner hohen körperlichen Vollendung Zusehen muß, wie ihn die Seele seiner Seele mit Boxern und Jiu-Jitsu-Kämpfern verlassen hat.

      Seit Papa Tennis lernte, hat sich also immerhin einiges geändert, aber es betrifft mehr die Bewertung der Leibesübungen als diese selbst. Wohl gab es noch nicht die Verbindungen von Motortechnik mit menschlicher Kaltblütigkeit, aber von den eigentlichen «Körper-Sporten» standen die Wesenszüge schon fest, mit wenigen Ausnahmen wie Golf und Hockey, die man noch nicht kannte, und abgesehen von der technischen Durchbildung, die aber ziemlich stetig erfolgte; denn von «revolutionierenden» Stiländerungen fielen die der Reit-, Lauf-und Sprungtechnik schon in jene Zeit und sogar die Crawlmethode des Schwimmens, die erst später importiert worden ist, unterschied sich in der Arm-und Atemtechnik weniger von dem damals geübten Schnellschwimmen als dieses vom gemächlichen Mißbrauch des Wassers zur Großvaterzeit.

      Was den Sport zum Sport gemacht hat, ist also nicht so sehr der Körper als der Geist. Ehe ich aber von diesem berühmten Geist beginne, muß ich eine Geschichte erzählen, die weitab davon anfängt, jedoch bald dahinführt. Man weiß, daß Wien die zweitgrößte deutsche Stadt ist; aber da ein großer Teil der Einwohnerschaft Wiens in Berlin wohnt, wo er sich als Schriftsteller, Ingenieur, Schauspieler und Kellner große Verdienste um die norddeutsche Sonderart erwirbt, bleibt zu Hause nicht immer genug übrig, was man außerhalb natürlich nicht so genau weiß. Aber so ist man auf einen Einfall gekommen, der sowohl für die Geschichte der Kultur wie für die des Sports sehr bezeichnend ist: Man baut nicht nur seit einem Jahr an einem großen olympischen Stadion, sondern opfert diesem auch die letzten Reste des Praters. Was das heißt, muß erklärt werden. Der Prater gehört zu den sieben Weltwundern, die ein im Ausland lebender Wiener aufzuzählen beginnt, wenn er Heimweh hat; sie heißen: Wiener Hochquellenwasser, Mehlspeisen, Backhendeln, die blaue Donau, der Heurige, die Wiener Musik und der Prater. Nun ist es freilich so, daß, wenn man Schönberg sagt, dieser Wiener die Assoziation Postamt W 30 oder Autobus 8 hat, dagegen bei Musik sicher nur an Johann Strauß oder Lehár denkt, auch ist die Donau nicht blau, sondern lehmbraun, und das Wiener Trinkwasser überaus kalkhaltig, aber beim Prater waren ausnahmsweise Ideal und Wirklichkeit im Einklang. Denn das war, eng an ja in die Großstadt geschlossen, ein stundenweiter Naturpark mit herrlichen alten Wiesen, Büschen und Bäumen; eine Landschaft, in der man sich als Mensch nur zu Gast fühlte; eine Überraschung, denn diese Natur war gut um hundert Jahre älter, als es die Natur ist, in deren Gesicht wir sonst blicken; kurz, es war eine jener Stellen, die man heute, überall, wo man sie noch besitzt, für unberührbar erklärt, aus irgendeinem Empfinden heraus, daß es doch noch etwas anderes als Kugelstoßen oder Autofahren bedeute, wenn sich der Mensch langsam, ja sogar oftmals stehenbleibend oder sich setzend, in einer Umgebung bewegt, die ihm Empfindungen und Gedanken eingibt, für die sich nicht leicht ein Ausdruck finden läßt. In der Zeit der Allonge-Perücken scheint man das gewußt zu haben, denn obwohl der Prater damals ein kaiserlicher Jagdpark war, worin man zur Hatz ritt, gibt es allerhand Zeugnisse dafür, daß dies nicht ganz ohne ein Empfinden für die Natur vor sich ging; in der langen Besitzerzeit Franz Josephs, wo sich unsere heutige Art zu leben und auszusehen herausbildete, hatte man wenigstens Scheu vor Änderungen und gab nur die Ränder frei, selbst der aristokratische Jockeiklub und der Trabrennverein mußten sich damit begnügen: erst

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