Hexenhammer 1 - Die Inquisitorin. Uwe Voehl
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Lotte hätte fast einen tiefen Seufzer ausgestoßen, als sie den Speck roch. Aber natürlich waren diese verlockenden Speisen allein für Schwester Hildegard bestimmt, die sich auch sogleich schmatzend darüber hermachte. Dazu trank sie aus einer Karaffe, die gefüllt war mit einer roten Flüssigkeit.
Lotte nahm sich vor, später auch Ordensschwester zu werden. Dann würde man auch ihr solche Köstlichkeiten servieren, und sie würde niemals mehr hungern müssen.
Erst nachdem Schwester Hildegard den beiden Jungen zugenickt hatte, teilten diese nun auch das Brot für die Kinder aus. Es war hart und schimmelig, aber trotz allem schlangen sie es herunter wie Verhungernde.
Für Melisende musste es eine Tortur bedeuten, mit leerem Magen den anderen beim Essen zuzusehen. Niemand wagte, ihr etwas abzugeben. Die meisten dachten aber auch gar nicht daran.
Lotte brach dennoch ein Stück der harten Rinde ab und verbarg es in der Tasche ihrer Kutte. Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit ergeben, es Melisende zuzustecken.
Rasch schaute sie umher, ob es jemand bemerkt hatte. Nein, alle waren sie zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Kanten zu verschlingen.
Nur einer starrte sie so offen an, dass ihr angst und bange um ihn ward: der hässliche kleine Junge. Begriff er denn nicht, dass er jeden Moment Schwester Hildegards Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte? Vielleicht war er ja nicht nur körperlich versehrt, so wie Lotte, sondern auch noch geisteskrank? Obwohl …
Sie hätte fast aufgeschrien, um ihn zu warnen, als sein Nachbar ihm mit einer blitzschnellen Bewegung das Brot aus der Hand stahl.
Der hässliche kleine Junge schaute verängstigt, wagte nicht, das Brot zurückzuverlangen, während der andere nun genüsslich hineinbiss.
Lotte kannte seinen Namen. Vincenz. Er war als Rüpel bekannt. Seltsamerweise ließen die Schwestern manches bei ihm durchgehen. Ja, sie schienen es sogar zu mögen, wenn er wieder einmal über die Stränge schlug. Vor allem die Schwester Oberin hatte einen Narren an ihm gefressen.
Höhnisch schaute er nun den kleinen Jungen an, der sich tiefer und tiefer vor ihm zu ducken schien.
Aber nicht nur Lotte hatte den dreisten Raub beobachtet. Auch Schwester Hildegard hatte es mitbekommen. Doch anstatt die Missetat zu tadeln, sandte sie ein verständnisvolles Lächeln in Vincenz’ Richtung. Der fing es auf und grinste selbstgefällig, während er am fremden Brot kaute.
Verreck daran, du Dieb!
Kaum hatte sie den Gedanken geboren, bereute Lotte ihn schon wieder. Das war nicht richtig, dass sie sich anmaßte, über dem HERRN stehen zu wollen. Denn allein Asmodi, der alles sah und über alles richtete, stand ein Urteil zu.
Am liebsten hätte sie sich schnell bekreuzigt, nicht in der Art, wie es die verfluchten Katholiken taten, sondern in der richtigen Weise. Aber das hätte alle Aufmerksamkeit nur auf sie gezogen.
Noch während sie ihren lästerlichen Gedanken bedauerte, keuchte Vincenz auf. Er sprang von seinem Platz auf, wankte ein paar Schritte vorwärts und fiel röchelnd auf die Knie. Mit den Händen umfasste er seinen Hals, während sein Kopf blau anlief.
Die Jungen, die neben ihm gesessen hatten, sprangen ebenfalls auf, ein paar der Jüngeren begannen zu weinen.
Mit energischen Schritten stampfte Schwester Hildegard auf Vincenz zu und zog ihn am Ohr hoch. Vincenz würgte. Erst jetzt begriff sie, dass er zu ersticken drohte.
Sie schlug ihm auf den Rücken, aber auch das half nicht. Hilflos schaute sie umher, während Vincenz sich auf dem Boden zusammenkrümmte und immer schrecklichere Laute von sich gab. Es erinnerte an das Grunzen eines Schweins.
Asmodi hilf!
Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte Lotte auf den Jungen. Das hatte er nicht verdient. Das nicht! Und schuld war allein sie, sie, sie …
Immer mehr Kinder umringten ihn.
»Es ist das Werk des Namenlosen!«, schrie Schwester Hildegard, und damit erschreckte sie die Kinder nur noch mehr. Sie schauten sich gegenseitig hilfesuchend an, stoben umher wie aufgeschreckte Hühner oder versteckten sich ängstlich unter dem Tisch.
Nur einer handelte.
Es war der hässliche kleine Junge, dem Vincenz das Brot gestohlen hatte. Er sprang zu Schwester Hildegards Platz, ergriff das Messer, mit dem diese gerade noch den Speck geschnitten hatte, und rannte damit zu Vincenz.
Er will ihn umbringen!
Mit Entsetzen sah Lotte, wie der Junge Vincenz herumwarf, sodass dieser auf dem Rücken lag, und sich über ihn beugte. Er riss ihm das Gewand vom Oberkörper, und mit einer blitzschnellen Bewegung stach er ihm in den Halsansatz!
»Was passiert hier?« Die Schwester Oberin kam hereingestürzt. Sie und die anderen Schwestern speisten in einem Nebenraum. Der Lärm hatte sie alarmiert.
Mit einem Blick erfasste sie die Situation.
Aber auch sie konnte nicht verhindern, dass der Junge in die Wunde an Vincenz’ Hals fasste, einen blutigen Klumpen herausholte und ihn sich in den Mund steckte.
Er hat sich wiedergeholt, was ihm gehörte, erkannte Lotte bestürzt.
In der nächsten Sekunde hatten gleich mehrere Schwestern die beiden Jungen erreicht. Eine fegte den hässlichen Jungen mit einem Fußtritt zur Seite, sodass er jaulend auf dem Steinboden zu liegen kam. Die Schwester Oberin beugte sich zu Vincenz herab. Sie legte die Hände auf die klaffende Wunde und murmelte einen Heilzauber.
Vincenz hatte die Augen geschlossen. Aber er röchelte nicht mehr und schnappte auch nicht mehr nach Luft. Sein Atem ging gleichmäßig.
Zwei der Schwestern nahmen sich den hässlichen Jungen vor und nahmen ihm das Messer ab. Als sie ihn jedoch züchtigen wollten, hielt ein Ruf der Schwester Oberin sie davon ab.
»Halt! Albert hat versucht, Vincenz das Leben zu retten – wahrscheinlich aus Mitleid! Dafür hat er eine schlimmere Bestrafung verdient!«
Ein erneutes Raunen ging durch die Reihen der Zöglinge und Schwestern.
»Vincenz ist nur durch Asmodis Gunst errettet worden! Asmodi sei Dank!«
»Asmodi sei Dank!«, wiederholten die Anwesenden, während Schwester Hildegard den hässlichen Jungen hinausführte. Lotte erfuhr nie, worin die schlimmere Bestrafung bestand.
Auch sie dankte dem HERRN. Er hatte ihren Fluch nicht zugelassen.
Und das war gut so.
Der kleine hässliche Junge hatte also einen Namen, und alle Mädchen kannten ihn nun: Albert.
Keines von ihnen schloss aufgrund der Tat mit ihm Freundschaft. Eher fürchtete man ihn, soweit Lotte es mitbekam.
Vincenz erholte sich und saß nach einer Woche bereits wieder im Refektorium. Doch er konnte fortan nur flüssige Nahrung zu sich nehmen. Zudem hatte es ihm die Sprache verschlagen, er konnte nur noch stammelnde Laute von sich geben.
Die hasserfüllten Blicke,