Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
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So gerüstet, begab sie sich auf die Reise. Es war eine Wettfahrt mit der Zeit oder als wolle sie die Zeit zu größerer Eile reizen. Der Worte des Mönchs blieb sie eingedenk zu jeder Stunde.
Am Tag der heiligen Katharina, vor Anbruch der Nacht verließ die Infantin Burgos, zog bis in die arragonischen Berge, kam am Morgen bei heftigem Unwetter vor das Schloß Armedilla, und schon in der nächsten Nacht ging es weiter: nach Olmedo, nach Escalona und San Francisco, von Dorf zu Dorf über die unwirtlichen Hochtäler nach Norden.
Vier Maultiere trugen den Sarg, vierundzwanzig Männer mit Fackeln in den Händen ritten ihm zur Seite. Schrecklich war das Aussehen dieser Männer, ihre Gesichter waren kohlschwarz vom Flammenruß. An vielen Orten verkrochen sich die Menschen beim Anblick des schauerlichen Zuges. Auch unter Johannas eigenen Leuten verbreitete sich eine düster-ahnungsvolle Stimmung, und einige ergriffen heimlich die Flucht. Andere sagten, sie wollten eine Stadt beschauen, gingen und kehrten nicht wieder.
Vor dem Sarge ritt ein Fahnenträger mit einem schwarzen, für die Augen durchlöcherten Tuch vor dem Gesicht. Auf der Fahne brannte in goldenen Buchstaben das Wort Nondum, noch nicht.
Bei Tag gewährten die Hütten der Bauern, die Häuser der Herren Rast und Aufenthalt. Johanna bevorzugte die Orte in der Ebene, wo ihr Blick die Fernen fassen konnte, ehe sie sich zu kurzem Schlaf neben Philipp bettete. Sie liebte nicht Blumen in ihrer Nähe, aus Furcht, daß dann ein flüchtiges Vergessen ihre Sinne kraftloser machen könnte. Sie gab kein Ziel an, denn so erschien es ihr, als ob Philipp Richtung und Weg befehle. Nach Osten, Westen oder Norden zu ziehen galt ihr gleich, wenn nur die Tage hinabflossen zur Zukunft. Während die Welt an ihr verschlossenes Ohr vergebens pochte, sammelte sie in ihrer Brust Leben. Der Tote war gereinigt von aller Schuld, sie selbst hatte für ihn die Verantwortungen des Daseins übernommen. Im voraus schmückte sie sein Auge mit jener Glut, mit welcher er ihr danken würde für die Freiheit und Leichtigkeit seiner Seele. Einst hatte sie Ungeheures gewollt, ihr anmaßender Traum hatte von ihm verlangt, daß er einem Gott gleich sei; jetzt wollte sie nichts weiter als einen Menschen und sie schmachtete um den leersten seiner Blicke und die knabenhafteste seiner Gebärden, so wie er einmal um sie geschmachtet hatte auf dem Krankenlager der Sinnenliebe. Der blaue Himmel war ihr nichts, sie mußte erst die Bläue von Philipps Auge darin sehen, der süße Duft burgundischer Gärten nichts, außer er schien Hauch aus seinem Munde, kein Schmerz war außer dem seinen um das frühverlorene Leben, kein Ding war betrachtenswert außer dem erstarrten Leichenantlitz.
Unter ihren Begleitern war ein Mann, der ihr tief im Herzen ergeben war. Er hieß Jan Dalaunes und war ein ehemaliger Falkner, dem bei einer Jagd ein Auge ausgeschossen worden. Seitdem hatte er sich der Dichtkunst gewidmet, wobei ihn seine melancholische Gemütsart unterstützte, und er schrieb auch Stücke geistlichen Inhalts. Er wußte von Johannas ehern umschlossenen Mienen die Müdigkeit abzulesen, die sie sich selbst verhehlte, und er wurde zum kühnen Redner, wenn es galt, die immer rege Widerspenstigkeit der Söldner zu besänftigen. Das nächtlich lautlose Wandern mit einer Leiche, in deren Brust ein Räderwerk den Schlag des Lebens nachahmte, verdüsterte den Geist der Leute. Kam es doch vor, daß rauhe, kriegsgewohnte Burschen von Krämpfen befallen wurden, wenn mitternächtiger Sturm die Bäume bog, oder daß sie schrieen wie Besessene, wenn das Irrlicht übers Moor tanzte und der Mond grünliche Schleier auf den Felsen spann. Sie atmeten auf, sowie der erste Morgenschein den Osten färbte, und als sie nach Monaten ins flandrische Gebiet kamen, verließen sie den Dienst der Infantin.
Jan Dalaunes überredete die Herrin, in der Stadt Gent zu verweilen. Er trug dabei in seinem stillen Sinn die Hoffnung, daß sie nach ihrem Sohn Carlos Verlangen haben würde und durch seinen Anblick von der unergründlichen Schwermut geheilt zu werden vermöchte. Doch seine Rechnung ging fehl. Als der Graf von Croy, der ihr Wohnung in seinem Palast angeboten hatte, vor ihr erschien und sie fragte, ob sie den jungen Prinzen zu sehen begehre, da zuckte es auf in Johannas Gesicht, wie wenn eine Fackel durch einen finstern Raum fällt. Dann aber entgegnete sie kopfschüttelnd und mit kaltem Ausdruck, sie wolle Don Carlos nicht sehen. Die Worte des Mönchs erhoben sich wie Wächter in ihrem Innern, wenngleich sie ihrer nur als Formel gegen die feindlich andringende Welt bedurfte.
Sie schloß sich in ihre Gemächer ein, um nichts zu sehen, als ihren Toten, nichts zu hören als das täuschungsvolle Klopfen des Uhrwerks. Ja, zwischen Täuschung und Vision lag sie in einem Krampf, der halb Schmerz und halb Lust war. Sie mußte Weib sein, um Philipp zu lieben, Mann, um ihn noch einmal zu zeugen und Mutter, um ihn noch einmal zu gebären. Sie mußte in diesem fertigen Leib Kindheit und Jugend wiedererschaffen, das erwachende Auge mit allen Erinnerungen füllen, nichts von dem vergessen, was solch ein königliches Leben hält und trägt; daher mußte sie auch er selbst werden, damit Einheit entstehe zwischen dem Philipp von einst und dem der Zukunft und, wie alle Schuld, auch der grauenvolle Zustand des Nichtseins ausgelöscht werde aus seinem Geist. Dies zu vollbringen, still, allein, den Menschen unverständlich, ja scheinbar auch Gott zuwiderhandelnd, forderte übermenschliche Anspannung und mußte das Blut in unaufhörlichem Fieberlauf durch die Adern treiben.
Frühling, Sommer und Herbst verflossen zum zweiten Mal. In dieser Zeit war der junge König Karl sehr krank gewesen. Einst war er nämlich des Nachts aufgeweckt worden, um eine angekommene Depesche von geringer Wichtigkeit zu lesen. Sein Gouverneur, der ihn nach römischen Grundsätzen erzog, hielt unerbittlich darauf, daß er sich trotz seiner großen Jugend an die Geschäfte gewöhne. Als der Knabe durch einen dunklen Korridor in ein Zimmer gelangte, in welchem nur eine matte Ampel brannte, hielt er still, da er sich verirrt zu haben glaubte und belauschte ohne zu wollen das Gespräch zweier Diener, die in einer Nische kauerten.
»Wißt Ihr denn, daß die spanische Königin hier ist?« fragte der eine, schläfrig gähnend. Und der andere erwiderte: »So? ist die hier? ich wußt es nicht.« Darauf der erste: »Es ist die Mutter unsres jungen Herrn. Ein schlechtes Weib.« Und wieder der andere: »Warum lebt sie nicht beim Sohn?« – »Das böse Gewissen ist schuld,« flüsterte der erste, »hat sie doch ihren Herrn und Gemahl mit Gift vergeben.«
Ein leiser Schrei unterbrach die Erschreckenden. Der Knabe war zu Boden gestürzt. Er mußte fortgetragen werden und lag lange darnieder.
Viele Wochen später gab der Graf von Croy ein großes Maskenfest, welches drei Tage währte. Die Musik und das Lachen der Gäste tönte bis in die Zimmer der Infantin. Als Jan Dalaunes vor seiner Herrin erschien, entsetzte er sich, denn so durchwühlt und erregt hatte er sie niemals gesehen. Sie raste durch den Raum, immer querüber von Ecke zu Ecke und hielt die Hände gegen die Ohren gepreßt. Offenbar war das Spiel der Flöten und Geigen daran schuld. Der Falkner ging hinaus, beriet mit dem Kastilianer Antonio Vacca, was zu tun sei, dann kehrten beide zurück und Jan Dalaunes schlug der Infantin vor, ihm in den Luxemburger Palast zu folgen, der nur wenige Straßen entfernt lag. Johanna, qualvoll bedrängt, hatte nicht übel Lust, zu willfahren. Doch näherte sie sich zuerst der Leiche Philipps, beugte sich nieder, umschlang den Toten, wisperte in sein Ohr, küßte die wächserne Stirn, lächelte beschwichtigend wie eine Mutter, wenn sie den Säugling verlassen muß, wandte sich endlich mit fahl glänzenden Augen zu den beiden Männern und sagte heiteren Tones: »Er fängt schon an zu träumen.«
Dann ging sie, tief in sich gekehrt. Und so, nach innen webend, schritt sie im Luxemburger Palast über einen von Dämmerlicht erfüllten Flur, als plötzlich der Kastilianer vor der offenen Türe eines Saales stehen blieb und lächelnd den Arm ausstreckte. Vor einem länglichen Tisch stand ein feister Mann im Samthabit und mit weißer Halskrause und neben ihm, ein Buch in der Hand, saß ein Knabe von etwa zehn Jahren.
Donna